MÜNSINGEN. Auch fast 30 Jahre nach seinem Tod 1996 faszinieren die Bilder von Lothar Schall. Der Saal der Münsinger Zehntscheuer ist voll bei der Eröffnung der Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag am Sonntagmorgen. Stühle müssen herangeschafft werden, einem Teil der Gäste bleiben nur Stehplätze.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Werk im Wandel - Lothar Schall« ist bis 23. Juni in der Zehntscheuer Münsingen zu sehen, Donnerstag bis Sonntag 15 bis 19 Uhr. Die Ausstellung ist im zweiten bis vierten Obergeschoss des Gebäudes; mit dem Aufzug erreichbar ist nur die unterste Ausstellungsetage. (GEA)
Zwei, drei und vier Etagen höher kann man erleben, warum Schalls Schaffen bis heute so eine Sogwirkung hat. Zwischen dem dunklen Gebälk des historischen Dachstuhls wirken seine großformatigen Kompositionen aus Aquarell-, Öl- oder Kaseinfarbe wie Explosionen von Gelb, Rot und Blau.
Zentnerschwere Rahmen
Zwei Männer haben das alles zusammengetragen mit der Hilfe von Schalls Tochter Friederike von Hirschheydt: Joachim Wilhelmy, 83, enger Weggefährte Schalls, der in dessen Atelier im nahen Gächingen ein und aus ging; und Manfred Efinger, der als Schüler in Münsingen Teil von Wilhelmys Theater-AG war, ehe er Karriere an der Uni machte und schließlich Kanzler der TU Darmstadt wurde. Mit vielen Helfern haben sie die zentnerschweren Rahmen aus Glas und Eisen die steilen Stiegen hochgeschleppt.
Sieben Themengruppen findet man hier nun. Erst stößt man auf die Abstraktionen, weiter oben auf Einflüsse von Landschaft und Natur, auf Mikro- und Makrokosmos, ganz oben auf schemenhafte Experimente mit dem Körper. So treffen Thema für Thema Motive aus unterschiedlichen Schaffensphasen aufeinander. Hier die zentimeterdick gespachtelten Ölbilder der 1950er, dort die lichtdurchfluteten Aquarelle der 1980er. Hier der Nachhall expressionistischer Landschaft, dort der Aufbruch in kosmische Farbwirbel. Dazwischen Experimente mit vereinfachten Körperschemata in gerundeten Flächen, gemalt in samtig schimmernder Kaseinfarbe. Man spürt Einflüsse von Oskar Schlemmer, von HAP Grieshaber.
Farbschlacht auf der Wiese
Am stärksten er selber ist Schall aber in seinen riesigen Aquarellen. Ein Video zeigt ihn bei der Arbeit, draußen auf der Wiese, wie er die Farbe mit Pinsel und Flaschen über die große Papierbahn im Gras spritzt. Rasch, dynamisch, ohne innezuhalten - »im Flow« würde man heute sagen. Die wirbelnde Energie dieses »Flows« springt einem noch heute entgegen. Das Prinzip ähnelt dem »Action Painting« eines Jackson Pollock - nur das Ergebnis ist bei Schall völlig anders. Es lässt uns in kosmische Weiten blicken, wie die junge Kunsthistorikerin Mona Maidhof in ihrer Einführung festhält. Es lässt Licht und Luft südlicher Regionen durchschimmern - vor allem der Provence, wo Schall mitten in der Landschaft malte, wie seine Tochter Friederike von Hirschheydt dem Publikum erzählt: »Die Schall'schen Farbflecken sind dort auf den Felsen noch heute zu sehen.«
Gleichzeitig haben diese Farbklänge etwas Musikalisches, erinnern an die »Spektralklänge« der Neuen Musik. Schall war ein großer Musikliebhaber, sang bereits in der Jugend im Chor, wie die sorgsam gestalteten biografischen Tafeln in der Ausstellung verraten. Efinger und Wilhelmy haben denn auch Musik in die Vernissage geholt. Die vom Klavierduo Hayashizaki-Hagemann vorgetragenen Stücke verbindet Wilhelmy in launigen Erläuterungen mit Schalls Leben und Werk. Stücke von Hideo Mizokami und Veit Erdmann lassen nächtlich murmelnd den Naturbezug in Schalls Bildern aufscheinen. Erwin Schulhoffs sprudelnden Ragtime »Tempo di Fox« bezieht Wilhelmy auf die Atmosphäre in Schalls Atelier: »Locker, aber zügig ging es da zu.«
Heiter schlendert ein Stück von Jean Français durch den »Jardin du Luxembourg«, einen Park in Paris - so wie Schall zum schauenden Schlendern durch seine Farblandschaften einlädt. Und so wie Kunsthistorikerin Maidhof die Besucher auf einen Spaziergang durch Schalls Werk mitnimmt. »Außerdem steht das Stück für den Humor bei Schall«, ergänzt Wilhelmy. Immerhin habe dieser auch Till Eulenspiegel verewigt.
Bilder wie musikalische Klänge
Beethoven muss aber auch noch sein, einer von Schalls musikalischen Helden. Der zweite Satz aus seiner ersten Sinfonie führt in heiter-ländliche Gefilde. So wie auch bei Schall Natur und Landleben immer präsent sind. Lothar Schall, er bleibt einzigartig in der Kunstlandschaft. Eine weitere Schau soll es 2026 an der TU Darmstadt geben, wo Manfred Efinger bis zu seiner Pensionierung gewirkt hat. (GEA)