REUTLINGEN. Rezession, Klimawandel, leere Kassen – es ist kein einfaches Jahr, das die Württembergische Philharmonie am Montagabend in der Stadthalle einläutete. Aber würde Trübsalblasen etwas ändern? Ist nicht Optimismus der erste Schritt aus dem Tief? Das Neujahrskonzert war jedenfalls weit mehr als Mutmacher denn als Krisenkommentar angelegt.
Gleich das Auftaktstück der in den USA lebenden Britin Anna Clyne nimmt die rund tausend Gäste mit sektselig schwankenden Streicherwogen im Empfang. Die raketenartige Schlusssteigerung lässt die Champagnerkorken knallen. Zwischendurch prickelt es durch sämtliche Schlagzeugregister. Trinklied-Überschwang wechselt mit der Nostalgie feiner Holzbläserstellen. Alles mit großer Hingabe auf den Punkt gebracht. Und mit dem Richtigen am Pult: Der Brite Jamie Phillips weiß mit dem Humor der Vorlage viel anzufangen.
Märchenhaftes von Rachmaninow
Man sollte meinen, mit Rachmaninow würde nun doch das Elend der Welt auf den Tisch kommen, schließlich ist der in den USA nie heimisch gewordene Exilrusse als Melancholiker bekannt. Doch in seiner »Rhapsodie über ein Thema von Paganini« verwandelt er die Schwärze seines Gemüts in eine Folge märchenartiger Skizzen. In den 24 Variationen geben sich zarte Geister, galante Tänzer und grollende Dämonen die Klinke in die Hand. Der Hexenmeister über dieses Arsenal ist am Flügel der junge, hochaufgeschossene Roman Borisov. Den Wuschelkopf oft tief über die Tastatur gebeugt, bohrt er sich förmlich hinein in diese Charaktere, entlockt ihren Witz, ihre Bosheit, ihre verspielte Galanterie.
Borisov, gerade mal 23 Jahre alt und erst 2020 nach dem Abitur aus dem russischen Nowosibirsk nach Berlin gekommen, ist ein Phänomen. Das Wilde und Exzessive geht in seinem Spiel mit dem gestalterisch Kontrollierten eine unlösliche Verbindung ein. Die atemberaubenden Extravaganzen von Rachmaninows Stück nutzt er nicht als Bühne für die eigene Virtuosität, sondern als Bühne für das poetische Figurenarsenal des Komponisten. Im mörderischen Akkordprasseln, im schwindelerregenden Wirbeln der Läufe äußert sich nicht der Tastenartist, sondern der irrlichternde Gnom, der rasende Dämon, den Rachmaninow durch seine wortlosen Märchen spuken lässt.
Nicht weniger eindringliche Poesie entlockt der Pianist den ganz reduzierten Passagen. Es ist sicher kein Zufall, dass Borisov als Zugabe eine flüsterleise dahinwehende Träumerei des russischen Komponisten Nikolai Medtner wählt, die er mit äußerstem Feingefühl schattiert.
Charakterskizzen von Elgar
Nach der Pause geht es gleich weiter mit den prägnant skizzierten Charakteren. Diesmal jedoch, in Edward Elgars berühmten »Enigma-Variationen«, nicht in Gestalt von Feen und Dämonen, sondern von leibhaftigen Menschen aus dem Umfeld des Komponisten, von diesem launig und einfühlsam porträtiert. Mit ansteckender Begeisterung schwärmt Phillips über dieses Stück seines britischen Landsmanns. Und so prägnant und gewitzt er mit den Musikern die Sektlaune von Anna Clynes »Masquerade« und das Märchenhafte von Rachmaninows »Paganini-Variationen« ausgepackt hat, so griffig und voller Witz und Gefühl erstehen nun Elgars Porträts.
Ob es um die badende Bulldogge eines Organistenfreunds geht mit ihrem rauen Kläffen, um das silberhelle Lachen einer Freundin oder um die burlesken Bühnenkünste eines befreundeten Amateurschauspielers: Das kommt alles dicht und plastisch rüber. Genau wie die ergreifende Streicher-Elegie im zentralen »Nimrod«-Satz. Oder das – von Phillips extra erwähnte – Tuckern und Stampfen des Dampfschiffs, mit dem Elgars Ex-Verlobte einst nach Neuseeland entschwand. Schlagzeuger Markus Kurz pocht es als traurigen Abschiedsgruß auf den Paukenfellen.
Das ungelöste Rätsel
Die meisten der von Elgar im Stück aufgegebenen Rätsel sind gelöst. Zusätzlich hatte der Komponist jedoch verkündet, durch alle Variationen zöge sich noch ein weiteres, nie offen gespieltes Thema. Dirigent Phillips meinte, dieses Rätsel werde wohl für immer offen bleiben, das sei gerade der Reiz.
Andererseits ist nicht schwer zu erraten, worum es Elgar ging. Der empathische Ernst des Hauptthemas, von den Streichern fast seufzend vorgetragen, ist ein Hinweis. Zudem der Umstand, dass der zentrale »Nimrod«-Satz sich auf Beethoven bezieht. Dessen Lebensthema war das Lieben und Leiden des Menschen an sich. Was Beethoven machtvoll in seine »Neunte« packt, geht Elgar mit bezaubernden Porträts ganz normaler Leute an. Und doch geht es auch bei ihm um den Menschen an sich, mit seiner Fähigkeit zu lieben, zu lachen, zu trauern. Und sich mit all seinen Macken gegenseitig anzunehmen. Was doch eine schöne Aufgabe fürs neue Jahr wäre. Die Philharmonie hat mit ihrem Konzert schon einmal einen Schritt getan. (GEA)