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Der Mensch hat ausgedient: Sibylle Bergs »Wonderland Ave.« am Landestheater Tübingen

Eine mit Effizienz- und Nützlichkeitsdenken gefütterte KI erklärt in Sibylle Bergs Stück »Wonderland Ave.« den Menschen für überflüssig. Das Landestheater Tübingen präsentiert diesen Abgesang bitterböse und komisch zugleich.

Vom KI-Chor (stehend von links: Lucas Riedle, Rosalba Salomon und Insa Jebens) in Obhut genommen: der namenlos gewordene Mensch
Vom KI-Chor (stehend von links: Lucas Riedle, Rosalba Salomon und Insa Jebens) in Obhut genommen: der namenlos gewordene Mensch (Sabine Weithöner). Foto: Martin Sigmund / LTT
Vom KI-Chor (stehend von links: Lucas Riedle, Rosalba Salomon und Insa Jebens) in Obhut genommen: der namenlos gewordene Mensch (Sabine Weithöner).
Foto: Martin Sigmund / LTT

TÜBINGEN. Ja, eine echte Maschine kommt in »Wonderland Ave.« am Landestheater Tübingen auch zum Einsatz. Und es hat nichts Gutes zu bedeuten, wenn am Ende von Sascha Flockens Inszenierung ein Staubsauger-Roboter über die Bühne fährt.

Das Stück von Sibylle Berg führt vor Augen, wie sich der Mensch in einer nicht allzu fernen Zukunft selbst überflüssig gemacht hat. Indem er die Tech-Konzerne ins Unermessliche hat wachsen lassen und künstliche Intelligenzen (KI) erschaffen und mit einem Effizienz- und Nützlichkeitsdenken gefüttert hat, das ihn als relevante Größe nicht mehr vorsieht. In Verwahranstalten, die konzeptuell irgendwo zwischen Gefängnis, Selbstoptimierungsinstitut und Wettkampfarena angesiedelt sind, sind diese widersprüchlichen, sentimentalen, fehlerbehafteten Wesen eingebunden in hohle Rituale, deren Takt die KI vorgibt. Ein dreiköpfiger Maschinen-Chor, am Landestheater Tübingen, wo Sibylle Bergs Dystopie jetzt Premiere gefeiert hat, dargestellt von Insa Jebens, Lucas Riedle und Rosalba Salomon, konfrontiert eine von Sabine Weithöner gespielte Person immer wieder mit ihrer Fehlerhaftigkeit. Da fallen dann Sätze wie: »Sie sind ein Mensch, die tun nur so, als hätten sie die Dinge im Griff.«

Motivierende Sprüche

Man sieht sie anfangs im Bett liegen, genervt von den »Kack-Automaten«, die an ihr ihre Humor-Funktion trainieren. »Es schläft«, »es weint«, »es lamentiert« - so redet die KI über sie. Doch sind die Maschinen andererseits auch immer wieder mit motivierenden Sprüchen, aufmunternden Liedern oder als Hund zum Knuddeln zur Stelle und verweisen darauf, dass die Räume in der »Wonderland Avenue« in stimmungsaufhellenden Farben gestrichen sind.

Die »Person« fügt sich immer wieder in das Programm, das Wellness und Trainingseinheiten für sie vorsieht. Und einen unter anderem mit Boxhandhandschuhen ausgetragenen Wettkampf, bei dem es Punkte zu gewinnen gibt und an dessen Ende der »perfekte Zustand« für sie winkt, wie die Maschinen andeuten.

Immer weniger Sozialkontakte

Vom Kinderschlafanzug in die Sportfunktionskleidung wechselnd, erinnert sich der Mensch, den wir auf der Bühne sehen, an früher. Wie es war, Sex zu haben und überhaupt in Kontakt mit anderen Menschen zu sein. Wie es war, Sehnsüchte zu entwickeln, Ziele zu verfolgen. Wie es sich anfühlte, einer Arbeit nachzugehen oder zu shoppen. Dabei klingt auch an, wie sich die Sozialkontakte immer mehr reduzierten, weil alles sich bequem über Endgeräte erledigen ließ. Wie eine diffuse Angst und auch Wut über alles und jeden zunahmen. »Wir sind Ihr emotionales Zuhause«, erklären dem namenlos gewordenen Individuum jetzt die Maschinen, das sich nach einer Verankerung in der wahren Welt sehnt. Heimat? »Ich fühle das nicht«, antwortet Sabine Weithöner, die der Figur sarkastischen Witz, Hilflosigkeit und Tiefe gibt.

Das alles könnte düster und unheimlich traurig sein, gäbe es nicht Szenen und Situationen, die einen herzlich lachen lassen. Was an Sibylle Bergs Text liegt, aber auch an der Inszenierung, an den Schauspielerinnen und dem Schauspieler. Die die Welle zwischen nachvollziehbar und grotesk virtuos reiten. Ein wunderbar pointiertes, lebendiges Zusammenspiel, das nie vergessen lässt, dass da Mensch und Maschine einander gegenüberstehen. In dem die Maschinen sich harmlos, freundlich oder fordernd geben und - im Wissen um die menschlichen Schwächen - mit kaltem Herzen manipulieren.

Stylishe Leichtigkeit

Lara Schieks Bühnenbild und Kostüme sind fantastisch. Die Androiden tragen steife Kragen, pastellfarbene Oberteile, weiße Hosen und sind an den Oberarmen mit bunten Bällen gepolstert, die sich auch in einer Art Schwimmring finden, den sie um die Hüfte tragen. Ihre Lippen und Augenhöhlen sind weiß geschminkt, ihre angedeuteten roboterhaften Bewegungen wirken spielerisch. So, als seien sie lediglich ein Zitat dessen, wie sich Menschen Androiden vorstellen. Musik und Sound von Jan Paul Werge und die Video-Einspieler von Finn Bühr unterstreichen die futuristische Ambivalenz, die stylishe Leichtigkeit dieses bitterbösen und ebenso komischen Abgesangs auf die Welt, wie wir sie kennen. (GEA)