STUTTGART. Bob Dylan live zu erleben, ist ein polarisierendes Erlebnis. Als Stimme einer ganzen Generation hätte er eigentlich 1969 in Woodstock sein sollen, hatte aber keine Lust, dort aufzutreten. Als »dem größten Songwriter aller Zeiten« 2016 als erstem Musiker überhaupt der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, ließ er sich für die Preisübergabe – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – drei Monate Zeit.
Genie und Wahnsinn liegen eben nah beieinander. Insofern muss man es huldigen, dass die 83-jährige Legende, die er zweifelsohne ist, aber partout nicht sein möchte, überhaupt noch Konzerte vor Publikum gibt. Auf seiner vor drei Jahren gestarteten »Rough And Rowdy Ways«-Welttour, die im November in London endet (benannt nach seinem jüngsten Album) hat er am Montag in der Stuttgarter Porsche-Arena ein analoges Konzert gegeben. Sprich: In der Halle waren keine Smartphones erlaubt, keine Fotos und damit auch keine Video-Mitschnitte. Nur so wird die notwendige Atmosphäre für Dylans Epen geschaffen. Letztlich hat er aber lediglich die Zeit um 15 Jahre zurückgedreht. Besucher haben es seither verlernt, ein Konzert zu genießen, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, Beweismaterial für Social Media zu filmen.
Handylose Dunkelheit
Als Punkt 20 Uhr ein gedämpftes Licht die handylose Dunkelheit durchbricht, sieht man die vierköpfige Bluesband loslegen, sie umrahmt den hinter dem schwarzen Flügel sitzenden dunklen Lockenschopf. Typ Las-Vegas-Entertainer, schwarzer Gehrockanzug mit Muster, könnte aber auch ein Pyjama sein. Dylan sitzt, steht oder lehnt meist hinter dem Klavier. Dort schlägt er nach jedem Lied neue Seiten in einem Ordner auf.
So beschert uns der Großmeister eine Ü-80-Party in Wohnzimmer-Ambiente, bei der keine nervigen Enkel dabei sind. Visuelle Reduktion. Das Piano ist seine Stütze, man sieht, dass er Rückenprobleme hat, man ängstigt sich, dass er bei den wenigen Schritten umfallen könnte. Man erwartet, dass seine Stimme gewisse Dissonanzen aufweist. Doch Dylan ist in Bestform. Es war ein sonnig-warmer Tag, eine Wohltat für die Stimmbänder. Seine Stimme ist großartig, sein Klavierspiel phänomenal, manchmal brachial. Er lässt sich von leisen, dann wieder schnellen und lauten Bluestönen begleiten. Natürlich nuschelt er manchmal, wer seine Songs nicht kennt, versteht die Texte nur fragmentarisch.
Kunst als Gegenkraft
Neun seiner 17 Songs stammen von dem 2020 veröffentlichten letzten Album, seinem 39. Ein hoch gelobtes, wortreiches und sein textlich dichtestes Spätwerk. Songs, die man voller Entzücken, sogar mit Rührung hört. Der Spoken-Word-Künstler singt viel über Geschichte, eine voller Schmerzen und Gewalt. Er thematisiert die Vergänglichkeit, die dunklen und hellen Seiten der Liebe. Dylan beschwört die Gegenkraft der Kunst. Poesie und Gesang könnten zwar nichts verändern, aber trösten. Die Zahl seiner dargebotenen Klassiker bleibt überschaubar. Er hat sie für die Thematik der Album-Tour bearbeitet. Er beginnt mit »All Along the Watchtower« (1968). Gefolgt vom sechzig Jahre alten »It Ain't Me Baby«. Aus dem fröhlichen Verlangen »To Be Alone With You« (1969) wird eine dunkle Ballade.
Seine fast poppige Version von »It’s All Over Now, Baby Blue« (1965) legt den Fokus auf Neuanfänge und Enden. Die »Desolation Row« (1965) beschreibt das urbane Chaos der modernen Welt. Fester Bestandteil der Tour-Setlist ist »When I Paint My Masterpiece«, von dem Dylan sagt: »Das beschreibt das Irgendwo, wo man jenseits der Erfahrung gerne wäre.« Nach »Every Grain of Sand«, in dem der 1978 zum Christentum konvertierte Dylan ausdrückt, was das Versprechen der Erlösung im Jenseits für ihn bedeutet, endet der Abend abrupt. Man spürt eine gewisse Endlichkeit. Noch einmal zwei Stunden wohl zum letzten Mal in einem Raum mit dem großen Mann der Musikgeschichte gewesen zu sein, lässt den Besucher ehrfurchtsvoll die Heimreise antreten. (GEA)