TÜBINGEN. Um schwierige Themen an Kinder heranzuführen, braucht es Fingerspitzengefühl. Und wenn möglich Kreativität und die Fähigkeit, sich in kindliche Denkweisen einzufühlen. Die Motive Flucht, Grenze und Nationalsozialismus gehören zu den Dingen, die ein behutsames Besprechen verlangen. Genau dies versucht das neue Kindertheaterstück am Jungen LTT in Tübingen mit »Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin«. Das Stück feierte am Freitagvormittag seine Premiere vor mehreren Schulklassen.
Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige 2017 erschienene Kinderbuch der Zeichnerin Pei-Yu Chang. Es erzählt von Walter Benjamins Flucht vor den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Ein riesengroßer Koffer war bei seinem Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien dabei, dessen Inhalt jedoch nicht entschlüsselt wurde. Dieses Bilderbuch faszinierte das Junge LTT, es wurde ein Kompositionsauftrag an Catalina Rueda vergeben. Gemeinsam mit Regisseurin und Textverfasserin Lisa Pottstock wurde ein Musiktheater für Kinder ab 6 Jahren gestaltet.
Mit Klang Grenzen überwinden
Wichtiges Element ist das Bühnenbild von Jeanne Louët, das aus einer orangefarbenen, nicht zu übersehenden »Grenzlinie« aus Stoff besteht. Eine sichtbare Grenze, die auch besungen wird: »Diese Linie ist eine Grenze«, tönt es melismatisch (mit vielen Tönen auf einer Textsilbe), die Musik wogt auf und ab. Ein Gebirge soll diese Grenze auch darstellen, ist Benjamin, der Philosoph mit jüdischen Wurzeln, doch über ein solches vor den Nazis geflohen.
Klänge spielen überhaupt eine große Rolle. Es wird nicht nur gesungen, es tönt auch, vibriert, es wird viel mit Klang experimentiert (Klangkunst: Kris Kuldkepp). Die drei Schauspieler Sophie Aouami, Michael Mayer und Toni Pitschmann lassen auch einzelne Wörter im Raum ertönen und spüren diesem Klang mit wachen Ohren nach. Gleich zu Beginn wird das Interaktive klargemacht. Man ist in einem Labor und möchte Grenzen untersuchen, unter Mithilfe der anwesenden Kinder.
Das Grenzoskopophon
Was jedoch ist genau eine Grenze? Warum soll sie da sein, diese menschengemachte, eigentlich unsichtbare Sache? Warum fliegen Vögel einfach so darüber hinweg, wenn es Menschen gibt, die sie nicht überqueren dürfen? Es ist doch überall die gleiche Nacht, dasselbe Gebirge. Dies alles klingt an, erst relativ spät ertönen direkte Worte über und von der Fluchthelferin Lisa Fittko. Den Kindern wird somit recht lange zugetraut, die Thematik zu erspüren - eine behutsame Herangehensweise. Mittels Sprachunterschieden, mit einem »Grenzoskopophon« (einem Gerät, das Risse in Grenzen finden soll) und natürlich mittels des Koffers wird der Thematik auf den Grund gegangen.
Wie tief die Kinder nun in diese Themen eintauchen konnten, wie groß das Verständnis für das Wesentliche war, dies ist sicherlich von Kind zu Kind unterschiedlich. Doch Spaß an den Wortspielen, am Miteinbezogenwerden und an dem offenen und tatendurstigen Naturell der Schauspieler hatten die Kinder allemal. (GEA)