MÖSSINGEN-ÖSCHINGEN.. Viel ist an greif- und sichtbarer Substanz nicht mehr übrig. Natürlich hat Öschingen dieses wunderbare Ensemble mit Kirche, Pfarrhaus, Pfarrscheuer und dem großen Pfarrgarten, den der bekannte württembergische Theologe und Dichter Karl Gerok einmal als paradiesisch bezeichnet hat. Dazu das seit hundert Jahren stillgelegte Wasch- und Backhaus, das die Initiative Lebenswertes Öschingen jetzt wieder als Backhaus in Betrieb nimmt. Doch von den anderen Kirchen, vom Kappl und vom Käppele, zeugen nur noch alte Berichte, Flurnamen und Erinnerungen. Was an Spuren dieser Vergangenheit dennoch zu sehen ist, holte der Öschinger Ortshistoriker Hans Martin Schneider bei einer Führung in die Gegenwart.
Knapp vierzig Teilnehmer machten sich mit ihm auf den Weg: Öschinger, Exil-Öschinger, aber auch Gäste aus Talheim und Mössingen und wie Gertrud Ohler sogar aus Ofterdingen: »Ich finde solche historischen Ortsführungen sehr interessant, mache das immer wieder.« Um nach gut drei Stunden eine Fülle von neuen Eindrücken aus Öschingen gewonnen zu haben.
Der Höllgraben floß in den Öschenbach
Etwa von der Öschinger Schweiz. So heißt im Volksmund das Gebiet um die Straße Altenbach, die von der Reutlinger Straße den Berg hochführt, ein Gelände steil und vor allem felsig, wie sich herausstellte, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts dieses Gebiet am damaligen Ortsrand bebaut wurde. »Bis dahin«, berichtete Schneider, »floss ein Bach den Hang hinab, der Höllgraben, der unten in den Öschenbach mündete.«
Doch Höllisches und Himmlisches liegen hier nah beisammen. Der obere Teil des Höllgrabens, der in Ansätzen noch oberhalb der Metzgerei Grießhaber zu erkennen ist, ist in einer Flurkarte von 1820 als »Kappelloch« beschrieben - ein Hinweis, dass es hier einmal eine Kapelle gegeben hat. Tatsächlich ist im Lagerbuch der Spitalpflege Reutlingen von 1479, die in Öschingen einmal vier Lehenshöfe besaß, von dem »Cäppelin« die Rede, und 1475 taucht erstmals der Name Sannt Anthoni Kapellen auf. Aus dem Flurnamen hat sich sogar eine Bezeichnung für die Bewohner des Gebiets abgeleitet. »Die Käppeler kommen, hieß es, wenn die Kinder von dort zur Schule gingen«, erzählte Schneider. Und manchmal habe man den Kindern damit auch gedroht: »Wenn du nicht folgst, kommst du ins Kappelloch.«
Geburtsstätte der »Roßbergnudeln«
Durch die Untergasse, eine der ältesten Straßen Öschingens, und die Kelterstraße, die frühere Hirschgasse, ging es zur Kreuzung Reutlinger Straße, wo gegenüber oberhalb einer Stützmauer die »Kappel« liegt; heute eine Grünanlage, aber früher ein Gebäudekomplex, in dem sich ebenfalls eine Kapelle befand. Von ihr sind weder Alter noch Patron bekannt, aber bis zum Abbruch der Häuser im Jahr 1954 war ein Portal erhalten. Im Gebäude links daneben gründete Otto Schneider, genannt »der Nudler«, 1927 seine »Eier-Nudeln und Makkaroni-Fabrikation«. Die Teigwaren verkaufte er dort unter der Marke »Roßbergnudeln«, bevor er 1950 seinen Betrieb in die Mössinger Freiherr-vom-Stein-Straße verlegte.
Am gegenüber liegenden Eingang zur Obergasse befindet sich ein Gebäude, das heute noch als »Kloster« bezeichnet wird - eines von drei Gebäuden, das den Dreißigjährigen Krieg unbeschadet überstanden haben soll. Aus der Nähe zur »Kappel« lasse sich schließen, so Schneider, dass es sich dabei möglicherweise um ein Beginenhaus gehandelt hat, in dem sich einst ledige und verwitwete Frauen zusammengefunden hatten, um kranke und arme Menschen zu versorgen.
Mehr als ein Kloster in Öschingen
Es ist nicht das einzige Kloster in Öschingen. Auch im Oberdorf, gegenüber vom Kindergarten und nahe der Kirche, steht mit dem Haus Bolbergstraße 50 noch eines von einmal vier Häusern, die im Volksmund ebenfalls als Kloster bezeichnet wurden. In seiner Ende des 19. Jahrhunderts verfassten Ortschronik äußerte sich der damalige Pfarrer Hermann Moser wenig schmeichelhaft über die Geschichte der einstmals christlichen Einrichtung: »Das Kloster wurde später Armenhaus und hat statt des Rufes gemeinsamer Brüderlichkeit, den der freien Liebe (wie man sich heute so schönen Ausdrucks bedient) in Wahrheit der freien Liederlichkeit.«
Der Weg ins Oberdorf führt vorbei am alten Schulhaus, dem markanten Gebäude aus Gönninger Tuffstein in der Schulstraße. Beim Bau von 1879 bis 1881 mussten die schweren Steinquader mühsam mit Pferde- und Ochsenfuhrwerken hertransportiert werden - »eine Schinderei für die Tiere, weshalb sich der Pfarrer mehrfach beklagte«, berichtete Schneider. Durch die schweren Fuhrwerke wurde auch der Weg ruiniert, weshalb 1883/84 der Neubau der Straße von Gönningen nach Öschingen notwendig wurde.
Ärger ums Schulhaus
Das alte Schulhaus ist aber nicht das älteste in Öschingen. Wer von der Kreuzung Dürer-/Bolbergstraße zur Martinskirche hochblickt, sieht vor der Kirche das Haus Moserstraße 2. Seit spätestens 1557 war dies die Öschinger Schule, zu einer Zeit, in der erst 13 von 26 Tübinger Amtsorten überhaupt eine Schule hatten. 1559 gingen etwa 15 Öschinger Kinder in die Schule. Der Schulbesuch war freiwillig und war nur im Winterhalbjahr von November bis April. Im Sommer mussten die Kinder in der Landwirtschaft helfen.
Erst 1649 wurde in Württemberg die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Einfach durchzusetzen war sie für den Pfarrer als Aufsichtsperson allerdings nicht immer. Weil Abraham Wagner seinen Sohn trotz mehrerer Strafen nicht in die Schule schickte, wurde dem Jungen 1683 sogar mit Gefängnis gedroht: »So oft er nit in die Schul kompt, so muß der buo denselbigen Tag ins Narrenhaus gelegt werden«, zitierte Schneider aus alten Unterlagen.
Dort hatte das Kind aber wahrscheinlich mehr Platz als in der Schule. Schon 1684, berichtete Schneider, gab es Klagen, dass die Schulstube zu eng sei. Kein Wunder: Der Schulmeister unterrichtete damals 81 Kinder in seiner Wohnstube. Viel verbessert hat sich in den folgenden Jahren offensichtlich nicht, denn 1781 bemängelte der Pfarrer, dass die Schule so stark belegt sei, dass »die Kinder nicht mehr alle sitzen können«. Aber bis die älteste Schule durch die alte Schule ersetzt wurde, sollten noch einmal hundert Jahre vergehen.
Einwohnersteuer für den Kindergarten
Auch im ersten Öschinger Kindergarten, den die Kirchengemeinde seit März 1937 im altpietistischen Gemeinschaftshaus betrieb, war es ziemlich eng. Im Juni 1956 stellten die Aufsichtsbehörden große Mängel fest: Der 32,5 Quadratmeter große Raum sei für die durchschnittlich 50 anwesenden Kinder viel zu klein. Die Kirchengemeinde als Träger musste bauen, und die bürgerliche Gemeinde steuerte 50.000 Mark bei. Um den Betrag aufzubringen, erhob Öschingen eine auf zwei Jahre befristete Einwohnersteuer.
War der Start »in der Höll«, schloss Schneider seine Führung im himmlischen Ensemble um Kirche und Pfarrhaus. Dieses hatte eine bauliche Besonderheit: Weil die Bolbergstraße zwischen den beiden Gebäuden deutlich tiefer liegt und früher oft verschlammt und überschwemmt war, gab es eine überdachte Holzbrücke vom Pfarrhaus zur Kirche, die bereits 1683 auf der Abbildung im Kieserschen Forstlagerbuch erkennbar ist. Zum Leidwesen mancher Pfarrer nutzten auch die Gläubigen den bequemen Weg und pilgerten Sonntag für Sonntag durch den unteren Flur des Pfarrhauses trockenen Fußes in die Kirche. Wegen Baufälligkeit wurde die Brücke 1898 abgebrochen. (GEA)