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Warum Aktivisten dieses Haus in Tübingen besetzen

Am Sonntag endeten die Mietverträge im lange von Studenten bewohnten Gebäude Sigwartstraße 11 in Tübingen. Weil unsicher war, was mit dem Gebäude passiert und um es nicht leerstehen zu lassen, gründete sich die Projektgruppe »Siggi11« aus der alternativen Szene der Uni-Stadt heraus. Gestern lud sie zum »Abschiedskaffee mit Siggis« – und erklärte das Haus anschließend für besetzt.

Am Sonntag erklärten Aktivisten gegen die Wohnstandsnot das Gebäude Siegwartstraße 11 in Tübingen für besetzt.
Am Sonntag erklärten Aktivisten gegen die Wohnstandsnot das Gebäude Sigwartstraße 11 in Tübingen für besetzt. Foto: Michael Sturm
Am Sonntag erklärten Aktivisten gegen die Wohnstandsnot das Gebäude Sigwartstraße 11 in Tübingen für besetzt.
Foto: Michael Sturm

TÜBINGEN. Das Haus Sigwartstraße 11 liegt im Schatten des Kupferbaus. Das Grundstück grenzt an den großen Parkplatz des Stadtfriedhofs. Über Jahrzehnte wohnten Studenten darin – mindestens seit den 1960er Jahren, teils Zimmer an Zimmer mit Mitgliedern der damaligen Eigentümerfamilie. Nun kündigte der aktuelle Eigentümer, der Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg (VBA), alle noch laufenden Mietverträge zum 30. September 2024.

Damit gibt sich eine Gruppe von Aktivisten nicht zufrieden: Die Projektgruppe »Siggi11« besetzte das Gebäude mit zwölf bewohnbaren Zimmern am Sonntag. Sie ließ verlauten: »Angesichts vieler Wohnungssuchender akzeptieren wir den Leerstand nicht.« Sie wollen, dass das Haus über das Mietshäuser Syndikat erworben und verwaltet oder einem Mieterverein überlassen wird.

VBA ließ Mietverträge auslaufen

Nach Angaben der Projektgruppe vermietete die VBA die Zimmer bisher direkt an die einzelnen Mieter. Seit letztem Jahr habe der Landesbetrieb damit begonnen, die Mietverträge auslaufen zu lassen, beziehungsweise zu kündigen. So löste sich die Wohngemeinschaft in der mittleren Etage letztes Jahr auf, seitdem standen die Zimmer leer.

Verträge, etwa über den Gasanschluss des Gebäudes, habe immer eine Person für alle anderen übernehmen müssen. Die Gesamtnebenkosten, durch die Anzahl der Mieter im Haus geteilt, seien für den Einzelnen entsprechend gestiegen. Die Mieter hätten versucht, Kontakt mit der VBA aufzunehmen, dies sei jedoch nur über eine Anwältin möglich gewesen.

Mitglieder der ursprünglichen Eigentümerfamilie kamen zu Besuch

Am Sonntag bekam die Gruppe unerwartete Unterstützung: Die Schwestern Katrin Nassal und Dorkas Kaiser, sowie ihre Mutter Margot Kaiser-Braue kamen zu Besuch, Mitglieder der früheren Eigentümerfamilie. Sie erzählten den Besetzern einiges über die Geschichte des Hauses.

Der Erbauer war der Steinmetz Konstantin Raidt, der wohl aus Kiebingen stammte. Er ließ das Haus 1888 errichten. Oben wohnte die Familie, unten hatte er seine Werkstatt: Er lieferte Grabsteine für den Stadtfriedhof gleich nebenan. Ursprünglich umfasste das Grundstück den heutigen Parkplatz des Stadtfriedhofs – damals floss der Käsenbach hindurch – und ein Stück des Areals, auf dem heute der Kupferbau steht.

Margot Kaiser-Braue und ihre Töchter Dorkas Kaiser und Katrin Nassal (von links) in ihrem ehemaligen Wohnzimmer mit Blick auf de
Margot Kaiser-Braue und ihre Töchter Dorkas Kaiser und Katrin Nassal (von links) in ihrem ehemaligen Wohnzimmer mit Blick auf den Tübinger Stadtfriedhof. Foto: Bild: Michael Sturm
Margot Kaiser-Braue und ihre Töchter Dorkas Kaiser und Katrin Nassal (von links) in ihrem ehemaligen Wohnzimmer mit Blick auf den Tübinger Stadtfriedhof.
Foto: Bild: Michael Sturm

Laut Katrin Nassal steht das Haus von der Siegwartstraße aus gesehen etwas nach hinten versetzt, weil ihr Urgroßvater ursprünglich auf dem Areal des heutigen Gebäudes Siegwartstraße 13 ein noch größeres Haus für die Familie bauen wollte: »Dann ging ihm das Geld aus.« Die Familie blieb in dem Haus wohnen, das eigentlich für die Unterbringung von Angestellten gedacht war.

Heute noch Zeichen aus Jahrzehnten von Wohngemeinschaften im Haus

»Wir zogen 1964 in die mittlere Etage ein«, sagte Katrin Nassal, damals vier Jahre alt. Ihre beiden jüngeren Schwestern Nikla und Dorkas waren noch nicht geboren. Schon vorher, als das Haus von ihrer Tante und ihrer Großmutter bewohnt wurde, hätten Studenten darin gewohnt. Im unteren Geschoss steckt heute noch das Türschild »Momo«, eine katholische Wohngemeinschaft. Oben hätte eine WG so viele Zeitungen gestapelt, dass man befürchten musste, der Boden bricht durch.

Margot Kaiser-Braue hielt ein Zimmer stets für Studentinnen frei. Das Haus sei immer offen gewesen: »Die Wohnungstür schloss nicht richtig. Es konnte sein, dass ich heim kam und es saß jemand Fremdes in unserer Küche.« Ihrer ältesten Tochter wurde es einmal zu viel: Während ihrer Ausbildung traf Katrin Nassal einen, der ihr beschrieb, wo er nächtigte, wenn er in Tübingen war – in ihrem Zimmer! »Das war mir überhaupt nicht recht!«

Nachdem Dorkas Kaiser 1991 als letzte Bewohnerin der Familie aus ihrem Elternhaus auszog, wollte ihre Mutter das Grundstück samt Haus nicht mehr halten – sie tauschte es bei der Stadt gegen ein anderes Grundstück ein. Ein cleverer Schachzug.

Laut VBA-Amtsleiter Marcus Wandel haben die Planungen bereits begonnen, ein Architekt sei hinzugezogen worden: »Wir wollen neuen Wohnraum schaffen, gerne auch mehr als bisher vorhanden ist. Das gibt das Grundstück her.« Man habe vor, das Gebäude ab nächster Woche entkernen zu lassen. Eine Sanierung könne nur ohne Mieter im Haus durchgeführt werden. Um einen Leerstand bis zum Wiederbezug komme man nicht herum. (GEA)