Logo
Aktuell Medizin

Tübinger Uniklinik will Krebs-Patienten und Ärzte sensibilisieren

Seltene Krebsarten werden oft zu spät erkannt. Dagegen will die Tübinger Uniklinik etwas tun.

Sabine Wagner und Professor Ulrich Lauer informieren über das Netzwerk Neuroendokrine Tumore.  FOTO: STÖHR
Sabine Wagner und Professor Ulrich Lauer informieren über das Netzwerk Neuroendokrine Tumore. FOTO: STÖHR
Sabine Wagner und Professor Ulrich Lauer informieren über das Netzwerk Neuroendokrine Tumore. FOTO: STÖHR

TÜBINGEN. Ihr erstes Interesse gilt immer der nächstgelegenen Toilette, gesteht Sabine Wagner lachend. Sie leidet an einer seltenen Erkrankung: Die Symptome sind plötzlicher, unkontrollierbarer Durchfall und tiefes Erröten im Gesicht, an Hals oder Dekolleté, sogenannte Flushs, erklärt Wagner. Die könnten natürlich alles Mögliche bedeuten und lassen nicht automatisch auf eine Krebserkrankung schließen. Je später die Ursache jedoch erkannt wird, desto schlechter sind die Heilungschancen.

Viele seltene Erkrankungen sind nur schwer zu erkennen, sagt Professor Ulrich Lauer von der Medizinischen Uniklinik. Das trifft auch auf den neuroendokrinen Tumor (NeT) zu. Forschungsergebnisse zeigen, dass NeT-Patienten im Durchschnitt fünf Jahre mit nicht geklärten, medizinischen Symptomen leben, weiß Lauer und betont, wie wichtig die Sensibilisierung von Ärzten und Patienten ist. Häufig ist die Diagnose ein Zufallsbefund, zum Beispiel im Rahmen einer Operation.

Auch Sabine Wagner hat etliche Jahre lang unter den Symptomen gelitten, hat die Flushs auf die Wechseljahre geschoben und die Durchfälle auf beruflichen Stress. Bei einer Magen- und Darmspiegelung wurde eine Lactose- oder Histaminintoleranz vermutet, der Primärtumor aber nicht gefunden. »Irgendwann kam ich dann gar nicht mehr von der Toilette weg«, erzählt die 53-Jährige aus Weil der Stadt. Sie war auch mehrmals in der Notaufnahme, wurde aber immer wieder ohne Befund nach Hause geschickt.

Bei 15 bis 20 Durchfall-Attacken am Tag war der Leidensdruck schließlich extrem hoch. Lauer weist auf eine Checkliste bei chronischer Diarrhoe hin, die schließlich auch zu der Krebsdiagnose führen kann. Das sei übrigens auch eine Domäne einer zusätzlich mit der Forschung befassten Uniklinik: Leute, die nicht locker lassen, sagt der Tübinger Mediziner.

»Die Diagnose klang erst einmal wie ein Todesurteil«

Dass sie innerhalb eines halben Jahres dann auch noch 15 Kilo an Gewicht verlor, war ihr gar nicht so unrecht, gesteht Wagner. Aber dann schwoll ihr Bauch an. »Ich sah fast schwanger aus«, erinnert sie sich. Mit einer »unerklärlichen Umfangvermehrung« wurde sie im Frühjahr 2012 schließlich ins Tumorzentrum einer Klinik eingewiesen. Bauchspeicheldrüsenkrebs konnte beim Ultraschall ausgeschlossen werden, allerdings entdeckte man Lymphknoten- und Lebermetastasen. Nach der Untersuchung der Lymphknoten wurde der NeT diagnostiziert.

»Das klang erst einmal wie ein Todesurteil«, sagt Wagner. Lauer betont, dass es bei der Erstdiagnose einer Krebserkrankung besonders wichtig ist, den Patienten nicht allein zu lassen, sondern ganz eng in alle Richtungen hin, gerade auch mit seinen Fragen und Ängsten, zu betreuen. Jeder Krebsverdacht sollte zunächst anhand einer Gewebeprobe abgesichert werden, bevor der Patient damit konfrontiert wird. Jeder Krebs ist anders, daher ist auch eine eingehende Beratung sehr wichtig, die einen individuellen Therapievorschlag und eine Einschätzung zur jeweiligen Prognose mit umfassen sollte.

Wagner war erst einmal froh über die Unterstützung vom psychoonkologischen Dienst an der Klinik. »Das hat mir sehr geholfen. Danach wollte ich mich nicht weiter mit der Diagnose beschäftigen, ich habe das erst einmal in eine Schublade gepackt.« Obwohl es ihr schon deutlich besser ging, als sie endlich die Ursache für ihr jahrelanges Leiden kannte. Und dann erfuhr sie von dem Netzwerk Neuroendokrine Tumore, einer Selbsthilfegruppe für Patienten und Angehörige.

Sie habe eine Zeit des Begreifens und Annehmens der Erkrankung gebraucht, sagt Wagner. Dabei habe ihr der Austausch in der Gruppe sehr geholfen. »Ich bin chronisch krank, aber es gibt eine gute Therapie.« Sie habe gelernt, mit dem Tumor zu leben, in einer Art Symbiose, erklärt sie. »Er ist mein Untermieter. Er ist nicht mein Feind, er gehört zu mir und hat seinen Platz und seine Berechtigung, darf mich aber auch gerne wieder verlassen.«

Eine Operation kam in ihrem Fall nicht infrage. Die Folgeschäden durch Verletzungen der umliegenden Organe wären unter Umständen gravierender als der Nutzen durch die Entfernung des krankhaften Gewebes, erklärt Lauer. Zumal Wagners Primärtumor im Dünndarm sehr langsam wächst. Aber er wächst. Während er anfangs mit Medikamenten in Schach gehalten werden konnte, erfuhr er 2014 einen deutlichen Wachstumsschub.

Mit einer Strahlentherapie wurden die Tumorzellen daraufhin behandelt. Diese Methode wird im fortgeschrittenen Stadium angewandt, wenn die Tumormasse zunimmt, erläutert Lauer. Nebenwirkungen gibt es dabei im Gegensatz zur Chemotherapie kaum. Bei insgesamt rund 300 verschiedenen Tumorarten kennen sich nur wenige Mediziner mit den eher seltenen aus. Daher sei es wichtig, ein Zentrum zu haben, wo die Kompetenz gesammelt wird. Zumal neuroendokrine Tumore sehr gut zu heilen sind, wenn sie rechtzeitig erkannt und entfernt werden. Aber auch wenn das nicht mehr möglich ist, weil sie zu spät diagnostiziert wurden, man kann mit dem »Mitbewohner«, wie ihn Wagner nennt, gut leben, da es sich um eher »freundliche« Tumore handelt.

»Von der Überholspur aufden Standstreifen«

Bis Ende 2018 war sie nach der Strahlentherapie stabil, hat in der Zeit allerdings die Dosis ihrer Medikamente erhöht, sobald sich der Tumor vergrößerte. Alle drei Monate lässt sie über eine Magnetresonanztomografie ihre Leber kontrollieren. Nun ist es wohl Zeit für die nächste Radio-Behandlung, meint sie.

Seit 2016 ist Sabine Wagner Regionalgruppenleiterin Schwaben des Netzwerks Neuroendokrine Tumore (NeT) und mittlerweile auch Mitglied im Bundesvorstand. Sie sieht die Tätigkeit als Berufung, nachdem sie wegen ihrer Erkrankung als vollerwerbsunfähig eingestuft wurde und ihren Beruf in leitender Stellung aufgeben musste. Von der Überholspur auf den Standstreifen, sagt sie. »Ich will das weiter geben, was mir die letzten Jahre auch geholfen hat, und anderen Mut machen.« Durch die Erkrankung habe ihre Konzentrationsfähigkeit ein bisschen nachgelassen, und sie werde auch schneller müde. Sie weiß die Zeit aber mehr zu schätzen, engagiert sich ehrenamtlich und genießt es, auch mal einen Tag zu Hause zu verbringen. Aufgeben sei nie eine Option für sie gewesen, betont die Mutter einer Tochter. »Aber ich vermeide das Wort Krebs.«

Der Verein hat unter anderem eine Notfallkarte entwickelt, die NeT-Patienten an der Toilettenschlange vorzeigen können, um dann von verständnisvollen Wartenden vorgelassen zu werden. Zu den Vereinsmitgliedern gehören auch Andrea Schempp und ihr Mann, der im vergangenen Jahr erfahren hat, dass er einen neuroendokrinen Tumor an der Bauchspeicheldrüse hat.

»Ein Zufallsbefund«, sagt die Reutlingerin. Er hatte undefinierbare Bauchschmerzen. Bei der Kontrolle der Galle im November 2018 wurde dann die Krebsdiagnose gestellt. »Da sind wir aus allen Wolken gefallen«, so die 54-Jährige. Im Januar wurde ihr Mann operiert, im April war er wieder zu Hause und musste dann erst einmal wieder stabil werden. Natürlich habe sie die ganze Zeit über mitgelitten. Über das Netzwerk haben sie aber schnell wieder in den Alltag gefunden. »Und durch die Unterstützung aus dem Freundeskreis«, sagt Schempp.

Zweimal im Jahr treffen sich die NeT-Mitglieder in Tübingen und umliegenden Kliniken, um unter anderem Kontakt mit Spezialisten zu knüpfen und Neues über die Behandlung von neuroendokrinen Tumoren zu erfahren. So setzen die Betroffenen große Hoffnung in die Immuntherapie, die es künftig auch für NeT-Patienten geben soll. Und arbeiten weiter daran, die Krebserkrankung bekannter zu machen, damit sie schneller diagnostiziert und geheilt wird. (GEA)

BEHANDLUNG HAT SICH IN DEN VERGANGENEN JAHREN DEUTLICH VERBESSERT

Unspezifische Symptome erschweren die Diagnose neuroendokriner Tumore (NeT)

Generell entstehen Tumore, wenn bestimmte Kontrollmechanismen der Zelle nicht mehr funktionieren und es zu einem unkontrollierten Wachstum kommt. Neuroendokrine Tumore (NET) sind gut- oder bösartige Tumore, die ihren Ursprung aus dem Neuroektoderm (Neuralleiste) nehmen und deren Zellen in der immunhistochemischen Charakterisierung den endokrinen Drüsenzellen gleichen. Zwei Drittel aller neuroendokrinen Tumore befinden sich im Magen-Darm-Trakt und in der Bauchspeicheldrüse.

Sie treten etwa ein- bis zweimal pro 100 000 Einwohner und Jahr auf und betreffen vorwiegend Patienten im Alter von 50 bis 70 Jahren; Frauen und Männer etwa gleich häufig. Neben den zufälligen (sporadischen) Erkrankungsfällen gibt es zwei Formen von erblichen multiplen endokrinen Neoplasien. Das kleinzellige Bronchialkarzinom wie auch das Merkelzell-Karzinom der Haut zählen ebenfalls zu den neuroendokrinen Tumoren.

Durch die Endoskopie und moderne bildgebende Verfahren werden sie mittlerweile immer häufiger gefunden. Die Behandlung wurde über die Peptidrezeptor-basierte Radiotherapie sowie die Einführung molekular zielgerichteter Therapien in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. (GEA)

NET-SYMPOSIUM

Ein NeT-Symposium für Wissenschaftler und Patienten veranstaltet das Zentrum für Neuroendokrine Tumore NeT- Zentrum Tübingen gemeinsam mit der Medizinischen Onkologie und Pneumologie am Mittwoch, 27. November, von 16.30 bis 19 Uhr. Themen sind neue Therapien, Studien und Aktuelles. Das Symposium ist im Hörsaal 125 der Kinderklinik der Crona-Kliniken, Gebäude 410, Hoppe-Seyler-Straße 3. (GEA)

www.medizin.uni-tuebingen.de