TÜBINGEN. Darf man überhaupt ein Tafeljubiläum feiern? Und sollte sich die Tafelarbeit in einem so reichen Land wie Deutschland nicht erübrigen und deshalb so schnell wie möglich selbst wieder abschaffen? Möglicherweise vertuscht sie sogar, dass es Aufgabe des Staates ist, dafür zu sorgen, dass alle genug zum Leben haben.
Von den knapp 1.000 Tafeln in Deutschland ist jene in Tübingen eine der wenigen, die sich als Verein organisiert hat. Viele andere sind bei Kirchen angegliedert. Gegründet wurde die Tübinger Tafel im September 1993 von 13 Leuten aus der evangelischen Jakobusgemeinde, der katholischen Johannesgemeinde und der evangelisch-methodistischen Gemeinde Tübingen. Der 25. Geburtstag wurde am Samstag mit einem Tag der offenen Tür in den Räumlichkeiten in der Eisenbahnstraße und einem Festakt gefeiert.
Rund 1.200 Personen – 450 Haushalte – mit Kreisbonus-Card kaufen derzeit regelmäßig in der Tübinger Tafel ein – eingeteilt in wechselnden Zeitfenstern und jeweils zum symbolischen Preis von einem Euro. Die Lebensmittelhändler kalkulieren inzwischen vorsichtiger, sodass weniger übrig bleibt. »Wir haben dennoch genügend Lebensmittel«, sagte Vorstand Reinhardt Seibert. Das liegt unter anderem an Spendern, die derzeit wöchentlich für etwa 2.000 Euro einkaufen und die Lebensmittel abgeben. Zuletzt gaben auch viele Kirchengemeinden von ihren Erntedankfesten etwas ab. »Sie setzen ein Zeichen gegen Lebensmittelverschwendung und Armut«, bedankte sich Seibert.
Armut auch in Deutschland
Beim Tag der offenen Tür gab es Fingerfood und Getränke im Verkaufsraum ebenso wie Bastel-Angebote und Spiele für Kinder. Eine Fotoausstellung zeigte die Geschichte. In der Eisenbahnstraße befindet sich die Tafel seit fünf Jahren. Es ist ihr inzwischen dritter Standort. »Die Tafel ist wie ein Stachel im Fleisch des Sozialstaates, der daran erinnert, dass es auch in unserem reichen Land armutsbetroffene Menschen gibt, die durch das soziale Netz fallen«, sagte Seibert.
Zudem landen in Deutschland (Stand 2022) laut Statistischem Bundesamt jährlich nach wie vor 11 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. 59 Prozent allerdings in privaten Haushalten, 7 Prozent im Handel. »Der Zuspruch von Kunden tut der Seele gut«, beschrieb Seibert die Motivation von vielen der 250 ehrenamtlichen Helfer. Sie sind ähnlich wie in einer Firma eingeteilt für bestimmte Bereiche. Einige holen Ware ab, andere sortieren aus und bereiten vor, wieder andere geben sie ab. »Die Arbeit ist organisiert wie in einer Verwaltung mit Abteilungen und Unterabteilungen«, sagte Tübingens Landrat Joachim Walter. Er dankte ebenso wie Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch den ehrenamtlichen Helfern. »In unserem überregulierten Land muss jeder Handgriff sitzen«, sagte Walter. Denn es gelte, viele Vorgaben, beispielsweise hinsichtlich der Kühlung von Ware und Hygiene, einzuhalten. Er wünsche der Tafel »weniger Kundschaft«. Denn der Arbeitsmarkt sei momentan gut und biete viele Chancen.
»Die ursprüngliche Idee war es, Lebensmittel zu retten. Es ist traurig, dass es die Tafel in ihrer heutigen Form braucht«, sagte Harsch. Denn viele Menschen, die von Sozialleistungen leben und wenig Geld haben, seien auf günstige Lebensmittel angewiesen. »Es können nicht alle versorgt werden, gerade wenn die Supermärkte knapper kalkulieren«, sagte Harsch.
Zuletzt stieg die Kundenzahl vor allem durch Flüchtlinge aus der Ukraine an, die etwa die Hälfte der Kunden ausmachen. Auch das Ehrenamt stoße an Grenzen. Viele treibe die Motivation, das »System am Laufen« zu halten. »Dabei sollte man sich selbst allerdings nicht überlasten«, so Harsch.
Zur Diskussion über die Aufgabe der Tafel sagte Harsch, dass neben zusätzlichen Räumen auch die Beratung sinnvoll sei. »Sie sind nah dran an den Menschen und die Hemmschwelle ist niedriger, als zu einer Behörde zu gehen«, sagte Harsch. So sehen die Mitarbeiter zum Beispiel, wenn ältere Leute abbauen, ebenso wie es den Kindern geht. Die Tübinger Tafel zeige zudem, dass es auch in der Akademikerstadt Leute gebe, denen es nicht gut gehe und öffne den Blick dafür. (stb)