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Tübinger Studierende lernen, wie körperlich Beinträchtige untersucht werden

Tübinger Studierende lernen mit Schauspielern, wie sie Patienten mit körperlicher Beeinträchtigung untersuchen

Die Fachärztin für Allgemeinärztin Lisa Mey schaut Medizinstudentin Katharina Zagorac über die Schulter, während diese das Tromm
Die Fachärztin für Allgemeinärztin Lisa Mey schaut Medizinstudentin Katharina Zagorac über die Schulter, während diese das Trommelfell der Schauspielpatientin Alfhild Karle untersucht. Tonne-Intendant Enrico Urbanek (zweiter von rechts) und Thorsten Doneith beobachten die Szene. FOTO: WEBER
Die Fachärztin für Allgemeinärztin Lisa Mey schaut Medizinstudentin Katharina Zagorac über die Schulter, während diese das Trommelfell der Schauspielpatientin Alfhild Karle untersucht. Tonne-Intendant Enrico Urbanek (zweiter von rechts) und Thorsten Doneith beobachten die Szene. FOTO: WEBER

TÜBINGEN. Wenn Alfhild Karle mit Kopfschmerzen oder Grippe zum Arzt muss, hat sie schon oft erlebt, dass dieser erst einmal einen Schreck bekommt. »Oh, jetzt habe ich einen Menschen mit Behinderung vor mir, was mache ich jetzt?«, beschreibt Karle diese Verunsicherung. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen und stößt im Gesundheitssystem immer wieder auf die Hürde, dass Ärzten schlicht das Fachwissen für eine bedarfsgerechte Untersuchung körperlich beeinträchtigter Menschen fehlt, weil es im Studium nicht auf dem Lehrplan stand. Doch das soll sich jetzt ändern. Das Institut für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung in Kooperation mit dem Tübinger Institute for Medical Education (TIME) der Medizinischen Fakultät hat sich mit dem Reutlinger Theater »Die Tonne« zusammengetan und im Sommersemester 2024 ein in Deutschland bislang einmaliges Pilotprojekt gestartet.

»Um praktische Fertigkeiten bei der Untersuchung von Menschen mit Behinderung zu vermitteln, hatten wir die Idee, Schauspieler mit einer körperlichen Behinderung zu engagieren, die die Rolle der Patienten übernehmen. So entsteht ein direkter Kontakt und die Patienten können Feedback an die Studierenden geben«, erläutert Dr. Lisa Mey, Mitinitiatorin des Pilotprojekts. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin ergänzt: »Dies ist nicht nur aus medizinischer Sicht absolut sinnvoll und notwendig, sondern trägt auch zur Inklusion bei. Wir zeigen Studierenden den professionellen und sensiblen Umgang mit körperlich beeinträchtigen Patienten.«

Barrieren im Kopf abbauen

Die allgemeinmedizinische Ganzkörperuntersuchung (GKU) stellt eine wichtige ärztliche Kompetenz dar, um einen ganzheitlichen Eindruck vom Patienten »vom Kopf bis zum Fuß« zu gewinnen. Während sie im Studium vermittelt und geprüft wird, haben die angehenden Medizinerinnen und Mediziner kaum Berührungspunkte im Umgang mit Menschen mit Behinderung, bei denen die Untersuchung komplizierter sein kann. Dabei lebten in Deutschland 2022 allein 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. »Wir möchten mit unserem Kursangebot Hemmungen und Ängste abbauen«, so Mey. »Und das scheint uns tatsächlich zu gelingen. Ich erlebe im Kurs eine intensive Interaktion von Studierenden mit den Simulationspersonen mit Behinderung und einen offenen Umgang. Das baut Barrieren im Kopf ab, gibt Sicherheit und erleichtert die medizinische Untersuchung.«

Katharina Zagorac studiert im sechsten Semester Medizin und nimmt an dem Pilotprojekt teil. »Ich höre jetzt das Herz ab«, erklärt sie Alfhild Karle während des Kurses. »Hoffentlich ist alles in Ordnung«, antwortet diese und lächelt. Am Ende der Untersuchung schaut sich Zagorac noch Karles Trommelfell an, auch dabei geht sie konzentriert und achtsam vor. Als Karle von Tonne-Intendant Enrico Urbanek von dem Pilotprojekt erfuhr, war für sie sofort klar, mitzumachen und ihre Erfahrungen weiterzugeben.

Berührungsängste abbauen

Seit über 20 Jahren ist sie Schauspielerin im Theater »Die Tonne«, bei dem seit 2005 eine eigene Theatergruppe für Menschen mit Behinderung besteht. »Für uns ist es großartig, angehenden Ärztinnen und Ärzten während ihres Studiums mit dem Engagement unserer Schauspieler zu helfen und so vielleicht noch mögliche Berührungsängste abzubauen«, so Urbanek.

»Wo muss ich von der Standard-Linie der Ganzkörperuntersuchung abweichen? Wo muss ich bei einem Patienten mit einer körperlichen Beeinträchtigung improvisieren, damit ich ihn untersuchen kann? Auch das lernen und üben die Studierenden in unserem Kurs«, so Dr. Thorsten Doneith.

Untersuchungen anpassen

Der Allgemeinmediziner und wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin hat den Kurs gemeinsam mit Dr. Lisa Mey entwickelt. »Wir schauen zu, wie die Untersuchung von den Studenten durchgeführt wird, können Feedback geben und die Hinweise der Schauspielerpatienten ergänzen.«

Am Kurs teilnehmen können Medizinstudierende des sechsten Fachsemesters, die bereits den allgemeinen GKU-Kurs absolviert haben. In einer gemeinsamen Einführungsveranstaltung werden die Teilnehmenden auf den praktischen Teil des »GKU all inclusive« vorbereitet. Dieser erfolgt in Kleingruppen von drei bis vier Studierenden, einem Schauspieler oder einer Schauspielerin mit Behinderung und dem Dozierenden. Eine Allgemeinmedizinerin mit Weiterbildung in Behindertenmedizin begleitet den Kurs. Auch Medizinstudentin Ida Gerlach nimmt an dem Pilotprojekt teil. Ihre Motivation ist klar: »Ich denke, dass ich in meinem Beruf früher oder später mit Menschen mit Behinderungen zu tun habe. Dann möchte ich ihnen nicht mit einer Schrecksekunde begegnen, ich möchte auch sie kompetent und professionell behandeln.« Katharina Zagorac hat im Kurs bereits gelernt, dass sie die Untersuchungen auf Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen individuell anpassen kann. Das hat für sie einen Mehrwert: »Es baut Unsicherheit ab.« (GEA)

 

PILOTPROJEKT

Für das Pilotprojekt haben sich 14 Medizinstudierende aus dem sechsten Semester angemeldet, die Teilnahme ist freiwillig. Im besten Fall soll es nach einer erfolgreichen Auswertung dauerhaft in den medizinischen Lehrplan aufgenommen werden und so einen nachhaltigen Beitrag zur Inklusion in der medizinischen Ausbildung leisten. »Wir hoffen alle sehr, dass es im nächsten Semester weitergeht«, sagt Dr. Thorsten Doneith. (GEA)