TÜBINGEN. In der Hochphase der Corona-Pandemie wurde die Notärztin und Tübinger Pandemie-Beauftragte Lisa Federle bundesweit bekannt. Nachdem sie das Konzept für das sogenannte Tübinger Modell mitentwickelt hatte - bei dem früh in der Pandemie mit einem negativen Corona-Test etwa Außengastronomie oder Kulturvorführungen erlaubt waren -, war sie ein gern gesehener Gast in Talkshows oder Nachrichtensendungen. Sie setzte ein Ärztemobil mit kostenlosen Schnelltests ein - und erhielt 2020 für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Eine beispiellose Karriere, könnte man meinen - doch ihre nun erscheinende Autobiografie zeigt, dass Federles Geschichte auch ganz anders hätte ausgehen können.
»Während der Pandemie war ich in einigen Talk-Shows eingeladen. Viele Menschen schrieben mir danach und wollten mehr über mich wissen. Das Buch ist die Antwort«, sagt die 60-Jährige. Die Leser erwartet eine unglaubliche Geschichte: Als Jugendliche wird Federle schwanger, flieht vor ihrem gewalttätigen und drogenabhängigen Partner, muss Essen klauen, wie sie erzählt. Schiebt Nachtdienst in der Urologie, holt mittlere Reife und Abitur nach, bekommt ein drittes Kind. Da ist der Wunsch, Ärztin zu werden - den sie schließlich erreicht.
»Ich will in diesem Buch mit niemandem abrechnen und meine Mutter nicht schlecht machen«, sagt Federle. »Ich will den Menschen Mut machen, dass man trotz widriger Umstände sich mit kleinen Dingen das Leben schön machen kann und sich seine eigene Welt gestalten kann - sei es durch Lesen oder Malen. Du musst schon Täler durchlaufen, um den Berg zu erklimmen, und um einen freien Blick zu haben.«
Ihre Autobiografie ist ein einziges Plädoyer für Seitenwege, Neugierde, Empathie und Respekt. Zugleich ist es ein erschütterndes Zeugnis einer freiheitsliebenden jungen Frau, die - geprägt vom frühen Tod ihres geliebten Vaters und der sittenstrengen Mutter - erstmal ins Straucheln gerät.
In der mehr oder weniger chronologisch aufgebauten Autobiografie berichtet Federle, dass sie mit 17 Jahren aus der atemraubenden Enge des Elternhauses ausbrach und anfing, ihre Freiheit zu genießen: Sie schmeißt die Schule und hängt mit ihrer Clique ab. Für sie sei der Pietismus ein furchtbares System der Enge gewesen, schreibt Federle. »Ich erreichte meine Mutter nicht mehr und sie mich nicht.«
Sie verliebt sich in einen zwölf Jahre älteren Mann, der nach ihren Erzählungen bald anfängt, viel zu viel zu trinken und sie zu schlagen. Im Alter von 17 Jahren wird Federle schwanger, ihre Mutter wirft sie wegen ihres Lebenswandels aus dem Haus. Ihr erster Sohn erblickt das Licht der Welt, 16 Monate später kommt ein zweites Kind, eine Tochter. Als sie entdeckt habe, dass der Mann an ihrer Seite ein Junkie ist und Heroin spritzt, geht sie und taucht mit den zwei Kindern Benjamin und Simone unter. Sie klaut einmal Essen im Supermarkt. »In den nächsten drei Wochen gab es nur abgepacktes Brot und Frischkäse - worauf ich seit dieser Zeit nie wieder Appetit verspürte«, schreibt Federle.
Um zu überleben, kellnert sie und schiebt Nachtdienste in der Urologie der Uniklinik Tübingen. Das verstärkt ihren Wunsch, Ärztin zu werden. »Seit meinem neunten Lebensjahr wollte ich unbedingt Ärztin werden. Das war von jeher mein größter Traum, an dem ich festgehalten habe«, erzählt Federle. Den Hauptschulabschluss hat sie zu diesem Zeitpunkt schon nachgeholt. Vier Jahre lang besucht sie die Abendschule und holt mittlere Reife und Abitur nach - während sie ihr drittes Kind bekommt. Im Alter von 30 Jahren erhält sie die Zulassung fürs Medizinstudium und promoviert sieben Jahre später. Ende gut, alles gut?
»Ja«, sagt Federle. Sie ist heute Mutter von vier Kindern und lebt in Tübingen, wo sie eine Hausarztpraxis betreibt. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Kreisärzteschaft und CDU-Kreisrätin. Zudem ist die 60-Jährige ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes in Tübingen und Pandemiebeauftragte des Landkreises.
Statt eines Nachworts führt Federle in der Autobiografie ihr »persönliches ABC« auf. Es beginnt mit A für »alt werden« (»Senioren liegen mir ganz besonders am Herzen«), und endet mit Z wie »zweiter Bildungsweg« (»Kein leichter Weg - aber er lohnt sich!«).
Sich für eine Gesellschaft einzusetzen, bedeutet für Federle, eine Gesellschaft am Leben zu erhalten. »Allein über eine Gemeinschaft, in der jeder auf den anderen achtet, und in Momenten der Not nicht zögert, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, wird Zukunft denkbar«, beschreibt sie ihr Engagement.
In den 35 Kapiteln der Autobiografie erfährt der Leser viel über den Alltag einer Ärztin und die Not von Menschen. Aber auch über die Liebe schreibt Federle. Zum Beispiel über ihre frühere Beziehung zu Rezzo Schlauch, dem einstigen Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Grünen. Sie sagt: »Es war der Beginn einer wunderbaren, großen Liebe, die zwölf Jahre halten und viele magische Momente mit sich bringen sollte - aber auch hin und wieder einen Wermutstropfen.« (dpa)