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Tübinger Landkreis wird »Region der Lebensretter«

Eine App koordiniert ehrenamtliche Retter: Ersthelfer sollen schnell an der Unfallstelle eintreffen. Das soll für eine bessere Überlebenschance von Herzstillstand-Patienten sorgen.

Feuerwehrkommandant Stefan Kratzel (links), Robert Wunderlich, Leitender Notarzt am Uniklinikum, und Martin Gneiting, Kreisgesch
Feuerwehrkommandant Stefan Kratzel (links), Robert Wunderlich, Leitender Notarzt am Uniklinikum, und Martin Gneiting, Kreisgeschäftsführer und Rettungsdienstleiter des DRK Tübingen, präsentieren die Ausrüstung der Lebensretter. Foto: Nadine Nowara
Feuerwehrkommandant Stefan Kratzel (links), Robert Wunderlich, Leitender Notarzt am Uniklinikum, und Martin Gneiting, Kreisgeschäftsführer und Rettungsdienstleiter des DRK Tübingen, präsentieren die Ausrüstung der Lebensretter.
Foto: Nadine Nowara

TÜBINGEN. 70.000 plötzliche Herzstillstände passieren jährlich in Deutschland. Nur etwa zehn Prozent der Patienten überleben das. 10.000 Leben könnten jedes Jahr in Deutschland zusätzlich gerettet werden, wenn sofort mit der Herzdruckmassage begonnen würde", sagte Robert Wunderlich, Oberarzt, Leitender Notarzt am Uniklinikum, bei einem Pressegespräch. In Deutschland würden nur 40 Prozent der Laien bei der Reanimation helfen, obwohl am Handy von professioneller Seite aus, Anweisungen durchgegeben würden, wie eine Reanimation funktioniert. In skandinavischen Ländern schreiten bis zu 90 Prozent der Laien zur Tat. "Etwa acht bis 15 Minuten vergehen in Deutschland, bis ein Rettungswagen am Unfallort eintrifft. Im Falle eines Herz-Kreislaufstillstandes ist das zu lang. Bereits nach drei bis fünf Minuten können irreversible Schäden im Gehirn entstehen", betonte der Notarzt.

Um die Zeit ohne Reanimation auf ein Minimum zu reduzieren, wird Tübingen unter Leitung des Uniklinikums, des Deutschen Roten Kreuzes Tübingen und der Integrierten Leitstelle Tübingen ab September zu einer »Region der Lebensretter«. Dafür werden 1.000 Menschen gesucht, die beispielsweise eine Sanitäts- und eine Reanimationsausbildung haben, und ehrenamtlich in ihrer Freizeit Leben retten wollen. Angesprochen werden zum Beispiel Pflegefachkräfte, Ärzte, Rettungsdienstmitarbeitende, Berg- oder Wasserrettungssanitäter, Medizinstudenten nach dem ersten Staatsexamen oder Notfallmediziner.

Spendenfinanziertes Projekt

Der Verein »Region der Lebensretter« ist 2017 als spendenfinanziertes Projekt in Freiburg im Breisgau gestartet. Mittlerweile nehmen fast 9.000 Personen in Baden-Württemberg und 15.000 Personen deutschlandweit teil. Registrierte Personen können überall dort alarmiert werden, wo die App etabliert ist. »Es gibt in anderen Landkreisen jedoch auch andere vergleichbare Systeme«, sagte Martin Gneiting, Kreisgeschäftsführer und Rettungsdienstleiter des DRK Tübingen.

Geleitet wird das Projekt am Uniklinikum von den Notfallmedizinern Robert Wunderlich, Alexander Münch und Benjamin Breckwoldt. Von Seiten des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) ist Martin Gneiting, Kreisgeschäftsführer des DRK Tübingen beteiligt. Ebenso Steffen Kratzel, Feuerwehrkommandant der Feuerwehr Tübingen, als Vertreter der Stadt.

»Die Stadt Tübingen, der Landkreis Tübingen und der Rotary Club Reutlingen-Tübingen Nord haben die Kosten für die Startfinanzierung des Systems (App, Defibrillatoren-Karte, Helferverwaltungssoftware) übernommen«, sagte Wunderlich. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart mit dem Bischofssitz Rottenburg unterstützt mit einer Summe von 100.000 Euro. Mit dieser sollen Defibrillatoren angeschafft werden sollen. Zusätzlich ermöglicht die Spende, dass die Lebensretter mit Beatmungsbeutel und -maske, Handschuhen, Warnweste, einem Kniebrett und einer wasserfesten Tasche ausgestattet werden. Weitere Spenden werden für die Folgefinanzierung des Systems gebraucht.

Algorithmus weist Ersthelfer zu

Wunderlich erläuterte das Prozedere: Wird ein Notruf über die 112 abgesetzt, alarmiert die Feuerwehrleitstelle einen Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug. Der Alarmierungsalgorithmus der App wählt 12 Ersthelfer mit einem Radius von etwa drei Kilometern Entfernung um die Unfallstelle aus. Das Tracken verläuft zunächst ungenau. Erst wenn der Helfer bestätigt, teilzunehmen, wird der genaue Ort mitgeteilt. In der App kann man direkt eingeben, ob man zu Fuß, oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, oder man ein Auto zur Verfügung hat. Die vier Personen, die am schnellsten, innerhalb weniger Minuten, vor Ort sein können, werden automatisch ausgewählt und navigiert. Die ersten beiden sind Ersthelfer, der dritte soll einen Defibrillator mitbringen, der vierte Retter koordiniert etwa den Rettungsdienst. Ersthelfer sind grundsätzlich über das Land Baden-Württemberg versichert.

Der Einsatz von Defibrillatoren sei ein wichtiger Aspekt bei der Reanimation, so Wunderlich. Von deren Einsatz würden 25 Prozent der Patienten profitieren. »Im Juni haben wir mit der Kartierung von Defibrillatoren des Typs automatisierter externer Defibrillator (AED) im Landkreis begonnen. Aktuell sind es 100. Nur zehn davon sind rund um die Uhr zugänglich. Manche befinden sich ja etwa in Sporthallen, die ja abgeschlossen werden«, gab Wunderlich zu bedenken. Es müssten dringend mehr angeschafft werden. Zudem könnten Betriebe ihre Defibrillatoren im Außenbereich anbringen, schlägt er vor.

Wie häufig werden die Lebensretter anrücken müssen? Bei im Durchschnitt etwa 250 Reanimationen pro Jahr im Landkreis, wird ein Ersthelfer bis zu viermal im Jahr angefragt. »Sie können auch ablehnen und die App stumm schalten«, sagte Wunderlich. (GEA)