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Tübinger Forscherin warnt: Binge-Eating-Essstörung derzeit schlecht heilbar

Beim Binge-Eeating, einer besonderen Form von Essstörung, ist nur jeder zweite Betroffene nach einer Behandlung geheilt. Eine Tübinger Professorin forscht an Behandlungsmethoden und warnt vor der schlechten Behandlungssituation derzeit.

Fast Food erhöht genau wie Fertiggerichte die Wahrscheinlichkeit, an der Binge-Eating-Störung zu erkranken. Der ungesunde Lebens
Fast Food erhöht genau wie Fertiggerichte die Wahrscheinlichkeit, an der Binge-Eating-Störung zu erkranken. Der ungesunde Lebensstil erhöht die Sterblichkeit erheblich. Foto: dpa
Fast Food erhöht genau wie Fertiggerichte die Wahrscheinlichkeit, an der Binge-Eating-Störung zu erkranken. Der ungesunde Lebensstil erhöht die Sterblichkeit erheblich.
Foto: dpa

TÜBINGEN. Ein internationales Expertenteam unter der Leitung von Professorin Dr. Katrin Giel von der Tübinger Uniklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie führt in der renommierten Fachzeitschrift »Nature Reviews Disease Primers« aktuelle Aspekte zur Häufigkeit, Diagnostik und Therapie der jüngsten Form der Essstörung zusammen, der Binge-Eating-Störung.

Die Daten und Fakten geben dabei Anlass zur Sorge: Unter den schätzungsweise 41,9 Millionen Fällen von Essstörungen weltweit waren 2019 17,3 Millionen auf die Binge-Eating-Störung zurückzuführen. Nur jeder zweite Betroffene gilt nach der Behandlung als geheilt und gerade einmal 50 Prozent der Betroffenen suchen aktiv Hilfe.

Durch Corona Fokus auf Fettleibigkeit

Corona hat die weltweite öffentliche Aufmerksamkeit in den vergangenen zwei Jahren auf eine Krankheit fokussiert. Doch bereits 1997 hat die Weltgesundheitsorganisation eine Erkrankung als globale Epidemie eingestuft: Adipositas oder auch Fettleibigkeit genannt. So ist bereits jetzt jeder dritte Mensch auf der Welt übergewichtig oder sogar fettleibig.

Die sogenannte »Binge-Eating-Störung« (BES) ist durch regelmäßige Essanfälle gekennzeichnet, bei denen Betroffene vergleichsweise große Mengen an Nahrung zu sich nehmen und die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren. Die BES geht häufig Hand in Hand mit Übergewicht und Adipositas sowie psychosomatischen Begleiterkrankungen wie etwa Depressionen oder Angstzustände.

Erst 2021 konnte Professorin Giel in einer Studie herausfinden, dass sich die momentane Corona-Pandemie negativ auf das Essverhalten und die psychische Gesundheit von Personen mit bereits diagnostizierter Essstörung ausgewirkt hat. »Gerade Personen mit einer BES berichteten von vermehrten Essanfällen und verstärkten depressiven Symptomen«, so Giel.

Um die Diagnose der BES nach internationalen Standards zu verifizieren, müssen die Essanfall-Episoden mindestens drei der folgenden fünf Merkmale erfüllen: sehr schnelle Nahrungsaufnahme, Überessen, Essen ohne Hungergefühl, alleine Essen aufgrund des Schamgefühls bezüglich der Menge und negative Gefühle nach dem Essen.

Häufig auch psychisch erkrankt

Neben den körperlichen Begleiterscheinungen, die bei einer BES auftreten wie etwa Adipositas, Bluthochdruck oder Arthritis, haben 94 Prozent aller Betroffenen mindestens eine zusätzliche psychische Erkrankung.

Dazu gehören insbesondere Depressionen, Angstzustände und Impulskontrollstörungen. Obwohl bei einer BES von Essanfall-Episoden die Rede ist, handelt es sich um eine langwierige Erkrankung. So weisen die meisten Langzeitstudien auf einen durchschnittlichen Krankheitsverlauf bei Erwachsenen von 14 bis 16 Jahren hin.

»Ein großes Problem bei der Behandlung der Betroffenen ist die Tatsache, dass nur etwa jeder Zweite mit einer BES überhaupt Hilfe aufsucht, aufgrund der vielfach empfundenen Stigmatisierung und Scham«, erläutert Professor. Dr. Stephan Zipfel. »Hinzu kommt, dass die leitliniengerechte Therapie nur eine Heilungsrate von 50 Prozent aufweist«, ergänzt Giel. Eine Verbesserung der Behandlung sollte daher die oberste Priorität haben.

Evidenzbasierte Behandlungen von BES beinhalten Psychotherapie, insbesondere kognitive Verhaltenstherapie sowie Pharmakotherapien mit Antidepressiva und Medikamenten zur Gewichtsreduktion.

Verhaltenstherapie am erfolgreichsten

Hinsichtlich des Ziels der Beendigung der Essanfälle und der Wiederherstellung der psychischen Gesundheit hat derzeit die Verhaltenstherapie den besten Wirksamkeitsnachweis. Pharmakologische Behandlungen oder Präparate gegen Übergewicht haben uneinheitliche Auswirkungen auf die Essanfälle und das allgemeine Stimmungsbild der Betroffenen.

Die Vorbeugung, Erkennung und Behandlung der BES ist eine medizinische Frage, aber gleichzeitig auch eine gesamtgesellschaftliche. Hinsichtlich der Prävention ist eine Mischung aus Verhältnis- und Verhaltensmaßnahmen gefragt, also sowohl Maßnahmen, die auf den Einzelnen abzielen, als auch umfassende Veränderungen, die auf strukturelle Faktoren auf gesellschaftlicher Ebene abzielen.

Viel höhere Sterblichkeit

Potenzielle Einflussfaktoren, die BES und Adipositas fördern, sind zum Beispiel die relativ einfache Verfügbarkeit von eher ungesunden Fertigprodukten am Arbeitsplatz oder in der Schulkantine oder das Fast-Food-Restaurant in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Die weltweite Prävalenz, also der Anteil an Betroffenen mit einer BES, wird für die Jahre von 2018 bis 2020 auf 0,6 bis 1,8 Prozent bei erwachsenen Frauen und bei 0,3 bis 0,7 Prozent bei erwachsenen Männern geschätzt. Dabei ist die Sterblichkeit im Vergleich zu gesunden Menschen um den Faktor 1,5 erhöht. Dieser Faktor erhöht sich merklich, wenn weitere psychische Erkrankungen hinzukommen, die bei BES sehr häufig auftreten. (GEA)