TÜBINGEN. Die Handskelette von Arbeitern und Arbeiterinnen aus den Anfängen der Industrialisierung spiegeln die vielfältigen und wechselnden Aktivitäten ihres Alltags wider. In einer neuen Studie haben Dr. Alexandros Karakostis vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen und Dr. Gerhard Hotz, Kurator für Anthropologie am Naturhistorischen Museum Basel, erstmals gezeigt, dass aus den Handknochen früherer Menschen viele Informationen über deren Arbeit und Alltagsleben gewonnen werden können.
Bei der Untersuchung von Handskeletten früherer Arbeiter aus dem 19. Jahrhundert vom Basler Spitalfriedhof wurden die Handskelette in einer virtuellen 3-D-Analyse untersucht, die alltäglichen Arbeiten, die die Menschen mit ihren Händen verrichteten, rekonstruiert und die Ergebnisse mit den jeweiligen dokumentierten Lebensgeschichten verglichen. »Dieser Ansatz beruht auf der 3-D-Untersuchung der Knochen, insbesondere der Stellen, an denen zu Lebzeiten die Muskeln ansetzten«, sagt Alexandros Karakostis, der Hauptautor der Studie, der diesen neuen Ansatz entwickelt hat.
Einblick in die Lebensgeschichte der Menschen
Die Ergebnisse der Forscher zeigten eine klare geschlechtsspezifische Arbeitsaufteilung während der Industrialisierung, einer der prägendsten Perioden moderner Gesellschaften. Bei den Frauen, die als Hausangestellte oder in der Fabrik gearbeitet hatten, stellten die Forscher ein sehr weites Spektrum bei der Ausformung der Handknochen fest. »Dies entsprach den vielfältigen Aufgaben und wechselnden Arbeiten, die zu dieser Zeit üblich waren«, sagt Karakostis. Bei Frauen, die spezifischere Beschäftigungen hatten, wie Näherinnen und Schneiderinnen hätten die Handknochen andere Ausprägungen aufgewiesen.
Ähnliche Ergebnisse erhielten die Forscher bei den untersuchten Männern, die »geschlechtsspezifische« Berufe hatten. »Zum Beispiel fanden wir bei Bauarbeitern bestimmte Skelettmerkmale, die schwere Arbeit und festes Zupacken widerspiegelten«, berichtet der Wissenschaftler. »Handknochen von Männern, die mehr feinmotorische Arbeiten verrichteten, wiesen mehr Merkmale auf, die sich durch häufige Präzisionsgreifbewegungen von Daumen und Zeigefinger herausbilden.«
Einblicke ins Leben des 19. Jahrhunderts
Um zu verstehen, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt hat, sei es wichtig, die Geschichte der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu rekonstruieren, sagt Karakostis. Bisher sei es in der Anthropologie schwierig gewesen, die Methoden zur Untersuchung geschlechtsspezifischer Arbeit zu überprüfen, da kaum Skelette von Frauen vorhanden waren, über deren Aktivitäten zu Lebenszeiten Näheres bekannt war. Generell gebe es wenige Archivbelege über die Beschäftigung von Frauen in vergangenen Jahrhunderten. Dies habe auch damit zu tun, wie frühere Gesellschaften die Arbeit von Frauen wahrnahmen.
Karakostis und Hotz nutzten Funde und Daten aus dem Projekt Basel Spitalfriedhof, das über identifizierte Skelette, zugehörige Krankenakten und dokumentierte Lebensgeschichten Einblicke in die Lebensbedingungen der Basler Unterschicht im 19. Jahrhundert gestattet. (eg)