TÜBINGEN. Wer in Württemberg Rabbiner werden wollte, der musste nach der Talmudschule an der Universität studieren. In Tübingen gab es jedoch keine Vorlesungen in jüdischer Theologie. Wohl auch deshalb fielen zwei jüdische Theologen vom Glauben ab und wurden zu Mitgründern der SPD.
Im Jahr 1861 war der 20-jährige gebürtige Baisinger Carl Hirsch der einzige Student, der in Tübingen für Israelitische Theologie eingeschrieben war. Er wohnte beim Kleiderhändler Leopold Hirsch, dem ersten Wankheimer Juden, der sich 1850 in Tübingen vor Gericht Bürgerrechte erstreiten konnte, in der Kronenstraße 6. Carl Hirsch war mit seinem Vater, dem Lehrer Michael Hirsch nach dem Pogrom von 1848 aus Baisingen nach Mühringen gezogen, wo er im selben Haus Tür an Tür mit dem Rabbiner Moses Wassermann wohnte, der zu seinem frühen Mentor wurde.
Lateinunterricht bei Feuerbach
Moses Wassermann, geboren in Ansbach, hatte privaten Lateinunterricht bei Ludwig Feuerbach genossen und ab 1831 in Tübingen »Israelitische Theologie« studiert. Da es in Tübingen nie einen Professor für jüdische Theologie gab, besuchte Wassermann Vorlesungen unter anderem bei Ludwig Uhland, bevor er als einer der ersten in Tübingen sein Rabbinatsexamen machte.
Ob es am Einfluss von Uhland lag? Rabbi Moses Wassermann, der 1873 von Mühringen nach Stuttgart befördert und vom König in den Adelsstand erhoben wurde, hinterließ ein umfangreiches schriftstellerisches Werk, darunter mehrere Erzählungen und Romane. Von den orthodoxen Juden wurde er als »Romanschriftsteller« verspottet. Wassermann wohnte während seines Studiums in Tübingen beim Bierbrauer Löffler. Carl Hirsch war vor seinem Tübinger Studium am Rabbinerseminar in Breslau gewesen. In Tübingen hörte er Vorlesungen in Philosophie, protestantischer Theologie und Naturwissenschaften unter anderem bei Immanuel Herrmann Fichte und Karl Reinhold von Köstlin. Er bestand 1864 sein Rabbinatsexamen, ging jedoch 1866 nach Berlin und wurde Journalist. Zunächst war Hirsch Redakteur von »Die Gleichheit. Wochenschrift für jüdische Angelegenheiten«, dann bei Johann Jacobys »Die Gegenwart«.
Mit Bebel und Liebknecht
1868 trat er dem ADAV und der Ersten Internationalen bei. Er lernte August Bebel und Wilhelm Liebknecht kennen und war an der Vorbereitung des Eise-nacher Parteitags beteiligt, auf dem die SDAP gegründet wurde. Zu Punkt 10 des Eisenacher Programms hielt Hirsch ein Referat und forderte Staatskredite für Produktionsgenossenschaften. ADAV und SDAP fusionierten 1875 zur SAP, die sich ab 1890 SPD nannte.
Als Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 im Sozialistengesetz sozialdemokratische Versammlungen und Publikationen verbot, gab Hirsch von Brüssel aus »Die Laterne«, die erste illegale Untergrundzeitschrift der Sozialdemokraten heraus. Die ersten Ausgaben schrieb er komplett selbst, die letzten Ausgaben redigierte er von Paris aus, weil er inzwischen auf Betreiben der Preußen aus Belgien ausgewiesen worden war.
Nach dem Willen von Karl Marx und Friedrich Engels hätte Carl Hirsch die Leitung der Parteizeitung »Der Sozialdemokrat« in Zürich übernehmen sollen. Hirsch sagte jedoch ab, weil die Finanzierung der Zeitung nicht gesichert war und man ihn durch ein fünfköpfiges Parteikomitee zensieren wollte. Hirsch siedelte stattdessen nach Paris über, wo er Lina Haschert heiratete, die Tochter eines jüdischen Lehrers, der ebenfalls Sozialdemokrat war. Hirsch blieb über viele Jahre der Verbindungsmann zwischen deutschen und französischen Sozialisten und sorgte dafür, dass deren Schriften im jeweils anderen Land veröffentlicht wurden. Er starb 1900 in Paris.
Nur zwei Jahre nachdem Carl Hirsch aus seinem Tübinger Studentenzimmer bei Leopold Hirsch ausgezogen war, bezog es Jakob Stern, ein weiterer Student der »Israelitischen Theologie«. Zwei Jahre jünger als Hirsch, hatte Stern im hohenlohischen Niederstetten ebenfalls das Kindheitstrauma der Pogrome von 1848 erlebt. Als 13-Jähriger war Stern auf die Talmudschule nach Würzburg und auf das Rabbinerseminar nach Bratislava geschickt worden. Als 20-jähriger Kabbala-Gelehrter mit Schläfenlocken und jiddischer Aussprache kam Stern nach Tübingen, froh, am Tisch von Leopold Hirsch koscheres Essen zu bekommen.
Streitschrift gegen das Schächten
In Tübingen hörte Jakob Stern Vorlesungen über Baruch de Spinoza, den größten Häretiker des Judentums und Begründer einer historisch-kritischen Exegese. Über die Philosophie Spinozas schrieb Stern ein 180-seitiges Buch, er reichte 1880 eine Promotion mit dem Titel »Thierleben und Thierquälerei in der jüdischen Literatur« ein und 1883 veröffentlichte er »Das Schächten. Streitschrift gegen den jüdischen Schlachtritus«.
Stern wurde zwar Rabbiner, war 1874 als Rabbinatsverweser von Mühringen und Nachfolger von Moses Wassermann auf für Baisingen und Wankheim zuständig. Aber er kam mit seinen liberalen Vorstellungen ab 1875 bei seiner jüdischen Gemeinde in Buttenhausen überhaupt nicht an.
Am 10. Januar 1880 polterten 40 Buttenhausener Juden an die Synagogentür und erklärten den Rabbiner für abgesetzt. Stern flüchtet nach Stuttgart. Als man ihn dort am Yom Kippur in einer Gaststätte erwischt, wurde er als Rabbiner gefeuert. Fortan lebte Stern in Stuttgart als sozialdemokratischer Redner und Schriftsteller. Er hielt die Festrede als 1890 das Sozialistengesetz auslief und war Mitarbeiter der »Neuen Zeit« von Karl Kautsky. 1891 formulierte er den Programmentwurf für den Erfurter Parteitag der SPD, innerhalb der er zum linken Flügel zählte.
Gesundheitlich schwer gepeinigt
Von gesundheitlichen Problemen gepeinigt, konnte Stern ab 1903 nicht mehr öffentlich auftreten und erschoss sich 1911 in Stuttgart. Jakob Stern wurde selbst zur Romanfigur. Im 2006 erschienen Roman »Melnitz« des jüdischen Schweizer Schriftstellers Charles Le-winsky sinniert der Rabbiner »Dr. Jakob Stern aus der kleinen Ortschaft Buttenhausen« über das Schächten.
Zwischen 1834 und 1933 studierten knapp 70 spätere Rabbiner an der Universität Tübingen jüdische Theologie, in den 1860er-Jahren waren es neben Stern und Hirsch noch zwei weitere jüdische Theologiestudenten. Studieren konnten Juden in Württemberg seit 1819. Die Prüfungsordnung für Rabbinatskandidaten wurde 1834 von der Israelitischen Oberkirchenbehörde eingerichtet.
Der erste Professor jüdischer Abstammung in Tübingen war 1823 der Jurist Adolph Michaelis, allerdings war er getauft. Der erste Jude, der ohne vorherige Taufe Professor wurde, war Leopold Pfeiffer (1821–1881), ebenfalls Jurist. Die Antisemitenpetition von 1880/81, die die Entlassung von jüdischen Professoren und Lehrern forderte, unterzeichneten in Tübingen laut einer Untersuchung von Martin Biastoch etwa fünf Prozent der Tübinger Studenten, etwa 60 Personen. Die jüdische Gemeinde in Tübingen zählte 1869 nur 34 Personen. (GEA)