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Rollstuhlrugby in Tübingen

Rugby ist etwas für Raufbolde, heißt es. Bei einem Tübinger Team ist das anders, aber nicht weniger spektakulär

Lucas Zehnle (links) und Bettina Kollmer (Zweite von links) kämpfen beim Rollstuhlrugby in der Turnhalle der Tübinger Unfallklin
Lucas Zehnle (links) und Bettina Kollmer (Zweite von links) kämpfen beim Rollstuhlrugby in der Turnhalle der Tübinger Unfallklinik um den Ball. Beim Rollstuhl-Rugby wird in Vierer-Mannschaften gespielt. Der Ball darf gepasst und gedribbelt werden. FOTO: DPA
Lucas Zehnle (links) und Bettina Kollmer (Zweite von links) kämpfen beim Rollstuhlrugby in der Turnhalle der Tübinger Unfallklinik um den Ball. Beim Rollstuhl-Rugby wird in Vierer-Mannschaften gespielt. Der Ball darf gepasst und gedribbelt werden. FOTO: DPA

TÜBINGEN. Und plötzlich wirkt ein jeder Crash beim Autoscooter wie ein müder Schubs. Ein Geräusch wie ein Donnerschlag bricht sich durch die Halle, als die beiden Rollstühle ineinander rauschen. Es ist volle Absicht. »Es geht darum, den Gegenspieler festzuhalten und bei ihm einzufädeln«, erklärt Lucas Zehnle am Spielfeldrand. Doch den Gegner mit Händen und Füßen festzuhalten und bei ihm einzufädeln, das geht nicht. »Beim Rugby spielt man Körper gegen Körper. Bei uns übernehmen die Rollstühle das Tackling«, sagt Zehnle. Er ist einer von zehn Spielern, vom Jugendlichen bis zum Endfünfziger, die sich an diesem Samstag in der Turnhalle der Tübinger Unfallklinik zum Rollstuhlrugby-Training treffen.

Während es beim Rugby erklärtes Ziel ist, Kontrahenten zu Fall zu bringen, zählen Berührungen beim Rollstuhlrugby als Foul. Gespielt wird in Vierer-Mannschaften. Der Ball darf gepasst und gedribbelt werden. Punkte gibt es, sobald ein Spieler ihn über die gegnerische Torlinie fährt – im Schoß. »Die meisten können die Finger nicht bewegen«, sagt Sebastian Frey, eine Art Spielertrainer des Tübinger Teams.

Starke Nachwuchsprobleme

Laut Deutschem Rollstuhlsportverband (DRS) wurde Rollstuhlrugby 1976 in Kanada entwickelt – speziell für Menschen, bei denen neben den Beinen auch die Arme von einer Querschnittlähmung betroffen sind. Für Tetraplegiker ist es die einzige Mannschaftssportart, die sie betreiben können. Seine besondere Ausrichtung ist aber gleichzeitig die Krux des Sports: Dass ein Einsatz vom Grad der Lähmung abhängt, schränkt im Ligabetrieb den Kreis der potenziellen Spieler ein – im Gegensatz etwa zum Rollstuhlbasketball, wo auch Nichtbehinderte mitspielen dürfen.

»Leider führt das zu starken Nachwuchsproblemen«, sagt DRS-Fachbereichssprecherin Anke Opiela. In Baden-Württemberg wird sonst nur in Fellbach, Karlsruhe, Freiburg, Heidelberg und Illerrieden Rollstuhlrugby gespielt. Dabei haben die Partien Spektakelqualitäten. Opiela: »Bei Großveranstaltungen wie den Paralympics gehört Rollstuhlrugby immer zu den am schnellsten ausverkauften Veranstaltungen.«

Rund 220 Menschen spielen nach Angaben des DRS bundesweit Rollstuhlrugby, es gibt Bundes- und Regionalligen – mit jeweils zwischen zwei und drei Spieltagen. Die Organisation ist aufwendig. »Man braucht viele Helfer, beispielsweise zum Umsitzen«, sagt Frey. Sein Team kämpft dieses Jahr wieder um den Alb-Bodensee-Cup. Tabellenplätze und Punkteausbeute standen bei der Gründung 2014 aber gar nicht so sehr im Vordergrund.

Der Trainingsort in der Unfallklinik hat seinen Grund. 30 Meter Luftlinie entfernt von den fliegenden Bällen, den Anfeuerungsrufen und dem Auf und Ab der Spielzüge befindet sich die »Station Q«. »Q« wie »Querschnittgelähmte«. Dort liegen die Frischverletzten, teils mehrere Monate. Auch Micha Bristle wurde vor mehr als zwei Jahren »aufgepäppelt«, wie er das nennt. Bevor er verunglückt ist, war er Handballer. Spielverständnis – das hatte er schon. Sebastian Frey warb ihn direkt aus der Reha für das Rollstuhlrugby an.

Die neuen Teamkollegen gaben Bristle Tipps, die nicht nur mit Pässen und Timeouts zu tun hatten. Wenn Alltage plötzlich nie mehr sein werden, wie sie zuvor waren, wirkt die Tübinger Rugby-Familie auch als soziales Netz. »Es ist viel wert, wenn man durch die Behinderung in ein neues Umfeld geworfen wird und gleich Anschluss hat«, sagt Bristle.

Individuell angepasst

Doch die Fluktuation ist hoch. Um den Spielbetrieb zu ermöglichen, ergänzen beim Training Fußgänger die Gruppe. So wie Bettina Kollmer, die ursprünglich als Hilfsperson mitkam. »Beim ersten Mal wurde ich gleich in einen Rollstuhl gequetscht«, sagt sie. »Gequetscht« deshalb, weil die speziellen Rugby-Rollstühle auch nach Angaben ihrer Teamkollegen alles andere als bequem sind. Ihre Räder stehen schräg zum Boden, Sitzposition und Körperschwerpunkt liegen tiefer als bei einem Alltagsrollstuhl. Das macht die Rugby-Geräte wendig und soll garantieren, dass sie nicht kippen oder die Bälle beim Transport rasch von den Knien rollen. Jene der Defensiv-Spieler haben außerdem einen »Rammbock«, eine Art Gitter, an der Frontseite, um beim Gegner damit einzuhaken.

»Ein Rugby-Stuhl muss für jeden Spieler individuell angepasst werden«, sagt Spieler Ralf Reichert. Zumindest sei so der Idealfall. Tatsächlich spielt der Großteil der Gruppe in Exemplaren, die der Verein von Mitgliedsbeiträgen und Sponsorengeldern gebraucht gekauft oder ausgeliehen hat. Ein neues Exemplar koste rund 10 000 Euro, so Reichert.

Im Tübinger Team besitzt außer ihm nur Sebastian Frey einen eigenen. Ob ein Rugbystuhl als therapeutisches Hilfsmittel verstanden und bezahlt wird, hängt dem Trainer zufolge von der jeweiligen Krankenkasse ab. Neue Mitspieler – auch solche, die laufen und Fäuste ballen können – sollen den Fortbestand der Truppe sichern. (DPA)