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Mit Zähnen die Evolution verstehen

Forscher untersuchen Karpfenzähne und finden miteinander verwandte Arten. Ergebnisse geben Rückschlüsse auf Fische, die vor vier Millionen Jahren lebten

Die Kratzbarbe (Capoeta damascina) aus dem See Homs in Syrien ernährt sich hauptsächlich von Algen. FOTO: UT
Die Kratzbarbe (Capoeta damascina) aus dem See Homs in Syrien ernährt sich hauptsächlich von Algen. FOTO: UT
Die Kratzbarbe (Capoeta damascina) aus dem See Homs in Syrien ernährt sich hauptsächlich von Algen. FOTO: UT

TÜBINGEN. Wissenschaftler der Universität Tübingen und aus der Schweiz haben Hunderte fossile Karpfenfischzähne erstmals mit 3-D-Technologien untersucht. Dabei fanden sie unter den vier Millionen Jahre alten Seeablagerungen aus dem heutigen armenischen Hochland eine erstaunlich hohe Artenvielfalt von Karpfenfischen vor. Das teilt die Uni Tübingen in einer Pressemitteilung mit. Die Erkenntnisse können Rückschlüsse auf die Entstehung von Artenvielfalt liefern.

Dank der »virtuellen Paläontologie« konnten die Forscher vier sehr nahe miteinander verwandte Arten von Kratzbarben identifizieren. Sie vermuten, dass die Arten gemeinsam in einem Megaseesystem lebten und gehen von einem Artenschwarm aus: eine Gruppe sehr nah miteinander verwandter Arten, die dasselbe Biotop besiedeln. Es ist das erste Mal, dass ein Artenschwarm von Süßwasserfischen in Westasien nachgewiesen wurde. Heute leben diese Karpfenarten jedoch in getrennten Regionen. Solche Erkenntnisse können Grundlage dafür sein, evolutionäre Entwicklungen nachzuvollziehen und die Entstehung von Artenvielfalt besser zu verstehen.

Das Projekt führten Anna Ayvazyan und Professorin Madeleine Böhme vom Senckenberg Center For human Evolution and Paläoenvironment (HEP) an der Universität Tübingen in Kooperation mit Davit Vasilyan vom Jurassica Museum in Porrentruy (Schweiz). Die Ergebnisse wurden im Journal Klos Once publiziert, einer internationalen Online-Fachzeitzeitschrift.

Die 3-D-Modelle wurden mithilfe von Computertomografie erstellt und dienten als Grundlage für Untersuchungen von Struktur und Form der Karpfenzähne. Die 3-D-Technologie liefert hochauflösende Bilder von räumlichen Details der Zahnstrukturen lebender Arten. »Diese Methode ermöglicht deshalb zum ersten Mal die Identifikation fossiler Arten«, sagt die Erstautorin der Studie, Doktorandin Anna Ayvazyan. »Wir konnten erst jetzt die erstaunliche Artendiversität feststellen, die bereits vor vier Millionen Jahren bestand.«

Wie die Arten entstanden sind

Auf Grundlage der genauen Artenbestimmung können nun erstmals evolutionäre Modelle für Fischfaunen des Nahen Ostens und des Kaukasus erstellt werden. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Evolution der Kratzbarben ein Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen geologischen, biologischen und umweltbasierten Prozessen ist. Diese Faktoren steuern in einer Region Artbildungsprozesse und die geografische Verbreitung von Arten über mehrere Millionen Jahre.

Die Wissenschaftler nehmen an, dass sich in Westasien vor fünf Millionen Jahren in einem riesigen Seesystem ein Artenschwarm von Kratzbarben entwickelte. Durch die Kollision der Afro-Arabischen Kontinentalplatte mit Eurasien begann sich damals das heutige Armenische Hochland um einige Kilometer zu heben. Es umfasst heute Ostanatolien, Nordwest-Iran, Armenien, Süd-Georgien und West-Aserbaidschan und ist zwischen 1 500 und 5 000 Meter hoch. Diese Gebirgsbildungsprozesse zerteilten das Megaseesystem, die einzelnen Kratzbarbenarten überlebten in getrennten Gebieten der im Hochland entspringenden westasiatischen Flüsse Euphrat, Tigris, Kura und Arax.

Die geologischen Prozesse führten zur weiteren Ausdifferenzierung und Entstehung neuer Arten von Kratzbarben. (UT)

 

 

 

 

DIE KRATZBARBE

Kratzbarben (Gattung Capoeta) sind eine ökologisch besondere Karpfenfischgruppe. In ihrer Ernährung sind sie auf Algen spezialisiert, die sie von Steinen abkratzen. Sie leben in Flüssen trockener Landschaften. In Westasien kommen heute mehr als 30 Arten der Kratzbarben vor. Warum es so viele Arten gibt, war bisher schwer erklärbar Die Identifizierung fossiler Karpfenarten war vor der 3-D-Technologie nicht möglich. (GEA)