TÜBINGEN. »Ich kenne Leute, die dich langsam quälen und dir die Haut abziehen wollen. Zerstückeln werde ich dich. Das wird passieren, wenn du nicht mitmachst«: So oder so ähnliche habe der Angeklagte seinem 53-jährigen Opfer gedroht. Immer wieder, im Zeitraum zwischen März und Mai 2022, mit dem Ziel, Geld zu erpressen. Mit jeder Drohung wuchs die Angst vor dem Angeklagten und seinen vermeintlichen Leuten im Hintergrund - von denen bisher noch nicht geklärt wurde, ob diese überhaupt existieren.
Zwischen 3.000 und 4.000 Euro soll der Angeklagte, der türkischer Staatsbürger ist, auf diese Weise ergaunert haben. Mehrmals die Woche sei er vor der Haustür des Opfers aufgetaucht und habe ihn - auch unter dem Vorhalten eines Messer - dazu gebracht , Bargeld für ihn abzuheben. Einmal durfte der 53-Jährige dafür nicht einmal mehr Schuhe anziehen, und musste auf Socken zur nahegelegenen Bankfilliale laufen.
Getraut, sich zu wehren oder die Polizei zu alarmieren habe sich das Opfer nicht - denn der mutmaßliche Täter hatte ein Druckmittel: das Wissen um seine Vergangenheit. Der Mann aus Bodelshausen war wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gesprochen worden. Am 10. März 2022 wurde er dafür zu einer Haftstrafe verurteilt, deren Vollstreckung jedoch erst später erfolgte. »Ich hatte Angst bloßgestellt zu werden. Er hat eine starke Droh - und Angstkulisse aufgebaut, und ich hatte und habe wegen meiner Taten ein schlechtes Gewissen«, äußerte das Opfer vor Gericht. Er habe sich dadurch selbst negativ beeinflusst und zu wenig Selbstwert und Selbstbewusstsein aufbringen können, um seinem Peiniger »energisch entgegentreten zu können«.
Am ersten Verhandlungstag wurde nicht geklärt, wie der Angeklagte von der Identität des 53-jährigen Sexualstraftäters Wind bekam. Stattdessen rückten die gesundheitlichen Hintergründe des Täters in den Fokus: Zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen, Angriffe auf Pflegepersonal und Polizeibeamte, wahllose Drohungen und Gewalt, ein Drogenproblem sowie eine diagnostizierte Psychose.
Richtig bei Sinnen wirkte der 32 Jahre alte Mössinger auf der Anklagebank zunächst nicht: Langsame und wirre Antworten, und »Augen auf halb Acht«, wie der psychatrische Sachverständige später beschrieb. Immer wieder erkundigten sich sowohl Richter als auch Strafverteidiger nach dem Wohlergehen des Angeklagten, fragten, ob er der Verhandlung folgen könne. Im Laufe des Vormittags erschien der 32-Jährige dann etwas wacher, so dass man an dessen Verhandlungsfähigkeit nicht länger zweifeln müsse, erklärte der Sachverständige.
Der Geschädigte aus Bodelshausen erhielt monatlich etwa 880 Euro Sozialhilfe, ergänzt durch einen kleinen Nebenverdienst für das Austragen von Zeitungen. Zum Glück, so berichtete er vor Gericht, wusste der Angeklagte nichts von diesem zusätzlichen Gehalt: »So konnte ich mir wenigstens ab und zu Lebensmittel kaufen. Sonst hätte ich nichts gehabt.« Der Tatverdächtige hob unregelmäßig Geld ab – mal 300 Euro, an anderen Tagen nur 15 oder 20 Euro. »Manchmal hatte ich das Gefühl, er wurde kurzzeitig gutmütig und wollte mir nicht alles wegnehmen. Doch am nächsten Tag war es wieder vorbei, und ich musste ihm den Rest geben«, erinnerte sich das Opfer. Im März 2022 konnte der 53-Jährige schließlich seine Miete nicht mehr bezahlen, woraufhin ihm der Vermieter die Kündigung aussprach.
Der Terror dauerte mehrere Monate, bis der Geschädigte einen Suizidversuch in seiner Wohnung unternahm, woraufhin er in die psychiatrische Klinik in Tübingen eingewiesen wurde. Doch auch dorthin folgte der Angeklagte dem Mann und setzte seine räuberische Erpressung fort. Er drohte, den anderen Patienten die Wahrheit über die Pädophilie des Mannes zu erzählen. Erst mit dem Umzug des 53-jährigen Opfers aus der psychiatrischen Klinik ins Gefängnis, wo er seine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten antrat, fand die Erpressung ein Ende. Dort offenbarte der Mann den Beamten seine Geschichte, die ihn noch heute mit »Schulden und Schäden« belastet.
»Ich bin nicht aus Rache, sondern für die Gerechtigkeit vor Gericht«, erklärte das Opfer, das betonte, den Angeklagten nicht zu hassen. Für den Prozess sind weitere Fortsetzungstermine angesetzt, in denen sich der 32-jährige Türke für insgesamt vier Anklagen, 25 Fälle der schweren räuberischen Erpressung und weitere Straftaten verantworten muss. (GEA)
Im Gerichtssaal:
Vorsitzender Richter: Christoph Kalkschmid, Staatsanwältin: Bettina Winckler, Strafverteidiger: Sebastian Gauss