TÜBINGEN. Erst hielten die Unterstützer des saudischen Bloggers Raif Badawi ihre Mahnwache auf der Stiftskirchentreppe ab. Als sie kurz vor Mittag ihre Transparente einpackten, begannen sich die Antikriegstag-Teilnehmer auf dem Holzmarkt zu verteilen. Ein Bündnis von mehreren Gruppen der Friedensbewegung hatte aufgerufen, gegen Aufrüstung und Kriegsgefahr zu demonstrieren. Etwas mehr als hundert waren dem Aufruf gefolgt.
Moderatorin Walburg Werner warnte 80 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs: »Kriege werden oft anders benannt.« Mitunter sei von Schutzmissionen oder der Sicherung der Handelswege die Rede. Doch solche Bezeichnungen führten in die Irre. Für sie steht fest: Neofaschismus sehe zwar anders aus als die historischen Vorläufer. »Aber man täusche sich nicht – Faschismus ist Faschismus, und Kriege sind Kriege.«
Elke Miller vom Friedensplenum richtete den Blick auf das Auslaufen des INF-Vertrages. Ohne gültige Vereinbarung über nukleare Mittelstreckensysteme drohe ein neues Wettrüsten. Die ersten Raketentests ließen das Tempo und die Dimension erahnen.
Ex-Stadtrat Gerhard Bialas zitierte Bertolt Brecht: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Der DKP-Mann wünscht sich ein »System des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit in einer lebenswerten Mitwelt.« Vor wenigen Tagen ist dem 88-Jährigen ein Bescheid aus dem Stuttgarter Innenministerium zugegangen, dass er wegen seiner Mitgliedschaft weiter überwacht wird (wir berichteten). Was an seinen Aktivitäten und Reden verfassungsfeindlich sein soll, ist dem Träger der Tübinger Hölderlin-Plakette schleierhaft. Gudrun Dreher vom Kreisvorstand der Linken verwies darauf, dass Engagement gegen Rüstung und Waffen-Export auch Engagement für den Klimaschutz sei. Michael Schwarz verlas die Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Jahrestag. Deutschland nehme einen vorderen Platz bei den Rüstungsausgaben ein. »Doch die Probleme lassen sich nur mit weniger statt mit mehr Waffen lösen.«
Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung sieht gerade Tübingen in der Pflicht. Die Cyber-Valley-Pläne könnten die Unistadt zum Rüstungsstandort machen, glaubt er. Amazon beteiligte sich jetzt schon am digitalen Rüstungsgeschäft und wolle bekanntlich auch in Tübingen bei den Forschungen zu Künstlicher Intelligenz mitmischen. Marischka verlangt »eine klare Absage an die Rüstungsindustrie«. »Eine aktive Friedensbewegung ist gefragt.« Am 10. Oktober, wenn der Gemeinderat über die Amazon-Ansiedlung beratschlagt, will man erneut auf die Straße gehen.
Henning Zierock von der Gesellschaft Kultur des Friedens musste sich entschuldigen lassen. Er ist aktuell auf Lesbos und kümmert sich um Solidaritäts-Projekte für Flüchtlinge. Im Juli hatten er und seine Mitstreiter in Tübingen und Stuttgart eine »Friedensstadtwoche« abgehalten. Eine Live-Schaltung zur Kundgebung am Samstag kam nicht zustande. Stattdessen verlas eine Sprecherin eine Stellungnahme und warb für eine Politik, »die Fluchtursachen, wie wachsende Ungleichheit, Waffenexporte, kriegerischen Interventionen und Klimazerstörung überwindet und nicht die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt«. (-jk)