TÜBINGEN. Etwa 13,5 Millionen ausländische »Fremdarbeiter« wurden während des Zweiten Weltkriegs ins Deutsche Reich zwangsrekrutiert. Sie ersetzten deutsche Arbeitskräfte, die zur Wehrmacht eingezogen oder anderweitig zur Unterstützung des Krieges im Einsatz waren. Mindestens 1 600 Menschen aus 15 Nationen mussten im Tübinger Stadtgebiet Fronarbeiten für das NS-Regime leisten. Bei Kriegsende war jeder Zwölfte in der Unistadt ein Zwangsarbeiter.
Im Raum Südwürttemberg hat die Darstellung dieses Aspekts der nationalsozialistischen Verbrechen bislang keinen Ort zur Präsentation gefunden. Daher machte es sich der Verein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus (LDNS) zur Aufgabe, »über dieses so groß angelegte Staats- und Gesellschaftsverbrechen« mittels einer Ausstellung aufzuklären.
Der Verein möchte in der Güterbahnhofshalle ein Infozentrum einrichten. »Das ist der ideale Erinnerungsort, um das Thema zu bündeln, weil dort der historische bunkerartige Beobachtungsstand zur Bewachung sowjetischer Zwangsarbeiter erhalten geblieben ist.« Zunächst bleibt es aber bei einer Wanderausstellung, deren erste Station am Freitagabend Vereinssprecher Harald Kersten im Stadtmuseum eröffnet.
»Ich habe hier meine Jugend und meine Gesundheit verloren. Zwangsarbeit in Tübingen 1939-1945« lautet die Zusammenstellung über das tragische Leben der Rechtlosen. Für das lange geplante Projekt hat der Historiker Daniel Hadwiger auf neun Stellwänden einen thematischen Überblick konzipiert. Dazu arbeitete er sich durch unzähliges Quellen- und Bildmaterial im Stadtarchiv, im Universitätsarchiv und des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft.
Er verfolgte einen biografischen Ansatz und ließ Zwangsarbeiter durch Fotos, Briefe und überlieferte Interviews selbst zu Wort kommen. »Das Thema dürfte vielen in Tübingen auch nach 75 Jahren noch unangenehm sein.«
Zwangsarbeit wird zumeist mit großen Industriebetrieben in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber profitierten in der Neckarstadt auch landwirtschaftliche Betriebe und medizinische Einrichtungen von den Entrechteten.
Bereits kurz nach dem Machtwechsel liefen die Kriegsvorbereitungen an. Am Güterbahnhof Tübingen wurden Brandschutzmauern mit Beobachtungsständen gebaut. Dreißig sowjetische Kriegsgefangene waren hier für Ladearbeiten eingesetzt.
»Das Thema dürfte vielen auch nach 75 Jahren noch unangenehm sein«
Ab 1942 kam es verstärkt zu Zwangsrekrutierungen von Zivilisten in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Arbeitsfähige Männer, Frauen und selbst Jugendliche wurden bei Razzien aufgegriffen und mit der Reichsbahn nach Deutschland geschafft und in örtliche Lager verbracht. In Tübingen, so Hartwiger, stammte der Großteil aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion. »Oft wurden wir bei der Arbeit durch Flugzeuge beschossen. Im Winter arbeiteten wir auf hohen Stahlmasten bei minus 35 Grad«, erzählte der damals 15-jährige Wiktor, der zur Instandhaltung des Elektronetzes der Reichsbahn herangezogen worden war: »Ich bin zwar nicht ums Leben gekommen, aber ich verlor meine Gesundheit.«
In der Landwirtschaft waren die Zwangskräfte besser versorgt, wie auf dem Eckhof. Die Behandlung hing vom Herkunftsland ab. »Ostarbeiter« standen auf der niedrigsten Hierachiestufe. Mindestens 150 Verschleppte waren an der Uni als Küchenhilfen, Putzkräfte oder im Garten beschäftigt.
»Die Römer hatten sicherlich Ehrgefühl, sie waren aber auch praktische Leute. Sie haben unbedenklich griechische Kriegsgefangene als Hauslehrer eingesetzt. Warum sollten wir nicht großzügig und praktisch sein«, sagte im Juli 1943 der Dekan der Philosophischen Fakultät, nachdem er einen gefangenen französischen Physiklehrer kurzerhand als Dozent im Romanischen Seminar angestellt hatte.
Praktisch dachte man auch in der Anatomie der Uni: Die Leichen von 156 Gefangenen und 64 Zwangsarbeitern wurden für medizinische Zwecke seziert. Anschließend bestattete man sie im Gräberfeld X auf dem Stadtfriedhof – der einzigen Erinnerungsstätte neben einer 2016 errichteten Stele des Geschichtspfades vor der Nervenklinik.
Mit der Ausstellung werde nun eine Lücke in der Aufarbeitung geschlossen, so Wiebke Ratzeburg, Leiterin des Stadtmuseums. Die Stellwände fügen sich gut in die Ausstellung zur NS-Geschichte Tübingens und der Industriegeschichte der Stadt. (GEA)