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Freundeskreise im Gehirn

Alles wieder vergessen? Nach der »Denkpause« in den Ferien geht es wieder ans Lernen. Das heißt, Beziehungen zwischen Nervenzellen zu pflegen

Ziemlich beste Freunde: Je öfter Nervenzellen im Gehirn gemeinsam aktiv sind, desto besser. Grafik: Hertie-Stiftung/dropout film
Ziemlich beste Freunde: Je öfter Nervenzellen im Gehirn gemeinsam aktiv sind, desto besser. Grafik: Hertie-Stiftung/dropout films Foto: Gea
Ziemlich beste Freunde: Je öfter Nervenzellen im Gehirn gemeinsam aktiv sind, desto besser. Grafik: Hertie-Stiftung/dropout films
Foto: Gea

TÜBINGEN. Schülerinnen und Schüler sowie Berufstätige müssen nach den Sommerferien wieder »auf Alltagsmodus« umschalten. Das gilt auch für das Gehirn, denn nun heißt es in besonderem Maße wieder, früheres Wissen abzurufen sowie Neues zu lernen. Doch wie wird Wissen eigentlich im Gehirn abgespeichert? Wie funktioniert das Abrufen von Wissen? Und was passiert mit Wissen, das man länger nicht mehr benötigt hat? Antworten auf diese Fragen geben der fiktive Dr. Mondino in dem neuen Erklärfilm der Hertie-Stiftung »Nichts vergessen – wie funktioniert unser Gedächtnis?« auf Youtube und die Neurowissenschaftlerin Professor Ingrid Ehrlich, Leiterin der Forschungsgruppe »Lernen und Gedächtnis« am Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung.

Das Gehirn – ein fein säuberlich geordnetes System mit Inhaltsverzeichnis? Weit gefehlt. Ein Sammelsurium von vielen Milliarden Nervenzellen ist im Gehirn für die Speicherung von Informationen verantwortlich. Die Informationen selbst werden in Gruppen, in »Ensembles«, aus mehreren Nervenzellen hinterlegt. Sind die Neuronen fast gleichzeitig aktiv, kann die Information abgerufen werden, die in diesem Ensemble abgespeichert ist.

Professor Ingrid Ehrlich leitet die Forschungsgruppe »Lernen und Gedächtnis« am Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforsc
Professor Ingrid Ehrlich leitet die Forschungsgruppe »Lernen und Gedächtnis« am Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. Foto: CIN
Professor Ingrid Ehrlich leitet die Forschungsgruppe »Lernen und Gedächtnis« am Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. Foto: CIN

»Man kann sich diese Ensembles wie verschiedene Freundeskreise vorstellen, denn jede einzelne Nervenzelle kann nicht nur zu einer Gruppe gehören, sondern gleichzeitig zu sehr vielen verschiedenen«, heißt es im Film. Wie bei echten Freundschaften gelte daher auch beim Lernen: Je öfter man gemeinsam aktiv ist, desto besser ist die Beziehung.

Bei jeder Aktivierung eines Ensembles werden die Verbindungen zwischen den Neuronen gestärkt und damit das Gelernte stabiler. Mit jeder Wiederholung einer Information rückt demnach ein bestimmter Freundeskreis in unserem Gehirn etwas enger zusammen. Und wenn man eine Information zum ersten Mal hört, entsteht quasi eine neue neuronale Freundschaft. Und die gilt es zu pflegen.

Jeder Mensch kennt die Situation, wenn ihm plötzlich etwas nicht mehr einfällt, was er sonst stets im Gehirn abrufbar hatte. Für Professor Ingrid Ehrlich ist dies jedoch kein Grund zur Aufregung: »Es ist oft schwer herauszufinden, ob etwas wirklich vergessen oder nur so gut versteckt ist, dass wir die erlernte Information nicht mehr so einfach abrufen können. Es gibt für bestimmtes Lernverhalten Hinweise darauf, dass bei nochmaligem Lernen von etwas vermeintlich Vergessenem doch noch eine Erinnerung vorhanden ist, da man beim zweiten Mal schneller lernt.«

Wird über eine sehr lange Zeit eine »neuronale Freundschaft« nicht gepflegt, kann dies aber durchaus zu einem tatsächlichen Vergessen führen. »Wie im richtigen Leben können auch im Gehirn Verbindungen verblassen und regelrecht abgebrochen werden«, sagt Ingrid Ehrlich. So schafft sich das Gehirn Freiräume für andere Informationen. Gleichwohl gebe es auch negative Beeinträchtigungen von außen. So könne der Abbau von »Ensembles« auch durch lang anhaltenden Stress befördert werden.

Dass das Lernen in jungen Jahren effektiver ist als im Alter, wird landläufig durch den Spruch »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« verdeutlicht. »Da ist etwas dran«, bestätigt die Neurowissenschaftlerin, »denn junge Hirne lernen viel und schnell, weil dies einen evolutionären Vorteil hat. Während der Entwicklung eines Organismus, also in jungen Jahren, sind die Synapsen – die Schaltstellen der Nervenzellen, die für die Verbindungen untereinander zuständig sind – daher veränderlicher als in späteren Jahren.« Das ist übrigens nicht nur beim Menschen so, sondern auch bei Tieren.

Diese Veränderbarkeit der Synapsen – in der Fachsprache synaptische Plastizität genannt – hat jedoch nicht nur Vorteile beim Lernen, sondern auch in anderen Bereichen. Beispiel Auge: Ein schielendes Auge kann bei Kindern durch Abkleben des »guten« Auges trainiert werden. Wird das in dieser frühen Phase versäumt, kann der Schaden später durch Training nicht mehr ausgeglichen werden. Im Alter ist synaptische Plastizität nicht mehr so einfach auszulösen.

»Im Schlaf verarbeitet das Gehirn Informationen, die gespeichert werden sollen«

Grundsätzlich hat der Lernprozess selbst einen hohen Stellenwert für den Lernerfolg. Man kann nur etwas gut behalten, wenn man es auch gut lernt. Ob das mit zusätzlichen Reizen verbunden ist, etwa mit Musik im Hintergrund, oder bei einer anderen Beschäftigung, muss jedoch jeder für sich selbst herausfinden. Dann kann es sein, dass das Erinnern oder Abrufen der Informationen leichter fällt, wenn man wieder in der gleichen Situation oder Umgebung ist.

Wissenschaftlich erwiesen ist hingegen die positive Auswirkung des Schlafes. »Es gibt Studien, die zeigen, dass das vor dem Schlafengehen Erlerntes im Schlaf gefestigt wird. Unser Gehirn ist nicht inaktiv im Schlaf, sondern vielmehr verarbeitet und konsolidiert es wichtige Informationen, die langfristig abgespeichert werden sollen. Dies passiert durch die Wiederholung der Aktivitätsmuster der Nervenzellen und derjenigen neuronalen Ensembles, die sich vorher im Wachzustand durch Lernen gebildet haben«, berichtet Ingrid Ehrlich.

Heißt aber ganz konkret: Schlafen in der Schule bringt nichts. Die richtige Reihenfolge ist: erst aufpassen, dann lernen. Und dann kann das Gehirn die Informationsverarbeitung ganz einfach im Schlaf übernehmen. (ghst/GEA)

DIE HERTIE-STIFTUNG

Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung ist der größte private Förderer der Hirnforschung in Deutschland. Sie hat das Hertie-Institut für Hirnforschung in Tübingen, eines der bundesweit größten und modernsten Zentren zur Erforschung neurologischer Erkrankungen, mit bislang rund 50 Millionen Euro unterstützt. Die Stiftung engagiert sich darüber hinaus in der Wissensvermittlung, unter anderem auf der Website www.dasGehirn.info. Hier wird das gebündelte Wissen über das Gehirn verständlich aufbereitet und die aktuelle Forschung dargestellt.

www.ghst.de