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Experte: Wie die Mafia in der Region arbeitet

Mafiaexperte Sandro Mattioli erzählt in Tübingen, wo es in der Region einen Mord der Ndrangheta gab und wie er hätte verhindert werden können.

Sandro Mattioli, Mafia-Experte im Tübinger Kino Museum.
Sandro Mattioli, Mafia-Experte im Tübinger Kino Museum. Foto: Steffen Schanz
Sandro Mattioli, Mafia-Experte im Tübinger Kino Museum.
Foto: Steffen Schanz

TÜBINGEN. Die italienische Mafia ist ein Thema, über das in Deutschland selten gesprochen wird – dabei ist das Interesse daran sehr groß, wie der ausverkaufte Kinosaal im Tübinger Museum zeigte. Die Buchhandlung Osiander hatte zu einer Veranstaltung mit dem Journalisten und Mafiaexperten Sandro Mattioli eingeladen. Er berichtete davon, wie die kalabrische Ndrangheta seinem Buchtitel zufolge »Deutschland übernimmt«. Ndrangheta ist die kalabrische Form der Mafia, deren Aktionsradius heute ganz Europa, Nord- und Südamerika sowie Australien umfasst.

Gab es einen Mafiamord in der Region?

Mattioli recherchierte die Hintergründe eines Mordes, bei dem am 1. Dezember 2016 ein 22 Jahre alter Tübinger Jurastudent in Hechingen erschossen wurde. Als Vorsitzender des Vereins »Mafianeindanke« wollte Mattioli wissen, ob er den Namen des Mannes auf die Liste mit unschuldigen Mafiaopfern setzen sollte, die jedes Jahr bei einer Gedenkveranstaltung verlesen wird. Um mehr darüber zu erfahren, sprach er mit einem italienischen Antimafia-Staatsanwalt, der bei der Erwähnung der Geschichte in Rage geriet. 2014 war ein damals 34-Jähriger bis dahin unbescholtener Bürger, Mattioli gibt ihm den Decknamen Carmine Molinari, bei einer Razzia in Sizilien wegen Drogenhandels aufgeflogen. Wegen eines Formfehlers kommt Molinari wieder frei, zieht nach Hechingen und eröffnet dort einen Obst- und Gemüsehandel. Er handelt jedoch auch mit Drogen.

Die italienische Polizei hört Molinari ab, hört wie er »zweieinhalb Reifen« bestellt. Für die Italiener ist das ein Code, sie beantragen einen europäischen Haftbefehl. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart nimmt Molinari fest, lässt ihn aber am nächsten Tag wieder gehen, weil ihr die Begründung der Italiener nicht ausreicht. Einige Zeit später gibt Molinari zwei jungen Männer ein Kilo Marihuana, das sie auf Kommission verkaufen. Sie geben es dem Besitzer eines Hechinger Spielcasinos, der jedoch die Bezahlung schuldig bleibt. Die Männer warten vor dem Casino, bis er herauskommt. Als der Casinobetreiber kommt, ist er nicht allein. Neben ihm steht der – an der Sache unbeteiligte – Student. Aus der Waffe, eines der beiden Dealer löst sich ein Schuss, an dem der Student stirbt. Der Schütze wird zu lebenslanger Haft verurteilt, der zweite Mann neun Jahre Jugendstrafe, Molinari drei Jahre und neun Monate. Der Mord hätte – nach Ansicht des italienischen Antimafia-Staatsanwalts - verhindert werden können, wenn die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Haftgründe der Italiener akzeptiert hätte.

Hat sich seit dem Hechinger Mord etwas geändert?

Laut Mattioli müssen europäische Haftbefehle inzwischen direkt umgesetzt werden, es bedarf keiner Prüfung mehr durch die Staatsanwaltschaft im anderen Land. Außerdem sei die europäische Zusammenarbeit über Eurojust verbessert worden, wobei Teams mit Ermittlern aus verschiedenen Ländern gebildet werden. Dennoch lästerten italienische Ermittler hinter vorgehaltener Hand immer wieder gerne, dass die deutschen Behörden Verhaftungen erst am frühen Morgen und nicht mitten in der Nacht ausführten und dass sie nicht die ganze Wohnung eines Verdächtigen abhörten, sondern das Schlafzimmer aussparten, berichtete Mattioli.

Ist die Ndrangheta in Baden-Württemberg eine kalabrische Filiale oder agiert sie eigenständig?

»Das Machtzentrum der Ndrangheta ist in Kalabrien. Alles was passiert, wird dort abgesegnet«, beantwortete Mattioli eine entsprechende Publikumsfrage. Es sei »extrem ungesund« für Mafiosi, unabhängig von Kalabrien zu agieren. In Norditalien sei ein Boss umgebracht worden, der das versucht habe.

Ist der Farao-Marincola-Clan, von dem 2018 mehrere Mitglieder verhaftet wurden, weiter in Stuttgart aktiv?

»Aus meiner Sicht existiert der Clan weiterhin in Baden-Württemberg«, sagt Mattioli auf eine entsprechende Publikumsfrage. Wenn man davon ausgehe, dass eine Ortsgruppe etwa 50 Mafiosi umfasse und man sperre zwei oder drei Mitglieder weg, sei das für die Organisation nicht existenzbedrohend. »Ich halte den Gedanken für illusorisch, dass man die Ndrangheta durch Polizeiaktionen zerschlagen kann«, sagt Mattioli. Zwar seien Verhaftungen wichtig, doch so lange man die Geldströme nicht austrockne, werde es Mafia-Investitionen in Deutschland geben.

Welchen deutschen Firmen unterstellt Mattioli Mafia-Kontakte?

»Ich wollte nicht, dass in der Presse vorab Auszüge meines Buches verbreitet werden, weil ich befürchtet habe, dass Lidl, die Deutsche Bank oder der FC Bayern dagegen klagen, dass ich sie in meinem Buch nenne. Das ist aber bis jetzt nicht passiert«, sagt Mattioli.

Hat die Ndrangheta auch an Stuttgart 21 verdient?

»Das ist intensiv überprüft worden«, sagt Mattioli. »Es ist erwiesen, dass eine Firma, die mit der Ndrangheta in Verbindung gebracht wird, sieben Baracken für Arbeiter von Stuttgart 21 gebaut hat«, sagt er. »Wenn man die Affinität der Mafia für Immobiliengeschäfte kennt, wäre es allerdings interessanter zu erfahren, ob sie an den Immobiliengeschäften in Verbindung mit Stuttgart 21 beteiligt ist«, fügt er hinzu.

Von welchen Mafia-Erfahrungen berichteten Zuhörer aus dem Publikum?

Ulf Siebert, Gastronom, Stadtrat und Kreisrat (Tübinger Liste) berichtete, dass er das Thema Schutzgeld selbst erlebt habe, als er noch die Diskothek im Blauen Turm betrieben habe. Seiner Erfahrung nach gebe es ein Tabu im Zusammenhang mit der Mafia, die er mit der Zurückhaltung in der Berichterstattung über Suizide verglich. Er frage sich, woher dieses Tabu komme. Ein Italiener, der seit Langem in der Region lebt, berichtete von einem Auto mit neapolitanischem Kennzeichen, aus dem zwei »geschniegelte junge Männer im Anzug« in einem ehemaligen Rottenburger Lokal verschwunden und eine Viertelstunde später wieder herausgekommen seien. Er habe sofort Bescheid gewusst, sagte der Zuhörer.

Welche Eigenheiten der deutschen Justiz begünstigen die Mafia?

Mattioli kritisierte, dass die Staatsanwaltschaften in Deutschland – anders als in Italien – nicht unabhängig ermittelten, sondern durch die Politik weisungsgebunden seien. Das habe möglicherweise zur Folge, dass der politische Fokus eher auf Shisha-Bars als auf italienischen Restaurants liege.

Will die Mafia wirklich Deutschland übernehmen?

Auf dem zugespitzten Titel habe der Verlag bestanden, er selbst habe das Wort »durchwuchern« bevorzugt. »Ich glaube nicht, dass die Ndrangheta den nächsten Bundeskanzler stellen will. Aber sie hätte es schon gerne, wenn es jemand ist, der ihren Anliegen gewogen ist«, sagte Mattioli. Dem Staat den Krieg zu erklären oder ihn gar zu übernehmen, habe die Cosa Nostra in den 1990er Jahren mit den Morden an den Richtern Falcone und Borsellino versucht. »Die Cosa Nostra ist damit gescheitert«, sagte er.

Warum hat Mattioli eigentlich keine Angst vor der Mafia?

»Ich bin von Natur aus kein ängstlicher Typ, aber ich bin mir schon bewusst, was das für Leute sind und was sie Kollegen von mir angetan haben«, sagte Mattioli. Allerdings sei er sich auch bewusst, dass er sich in Deutschland mit der Mafia anlege. Die Ndrangheta verfolge in Deutschland eine Strategie der Unauffälligkeit. Sie habe aus dem erhöhten Verfolgungsdruck nach den Mafiamorden von Duisburg 2007 gelernt. »Wenn ich plötzlich verschwinden oder tot aufgefunden würde, dann würde das jene Aufmerksamkeit erregen, die sie nicht wollen«, glaubt Mattioli. Man dürfe sich die Mafia nicht als »wild gewordene, schießwütige Cowboys« vorstellen. Ein Mord müsse in Kalabrien genehmigt oder angeordnet werden. (GEA)

Sandro Mattioli: Germafia – Wie die Mafia Deutschland übernimmt, 363 Seiten, 30 Euro Westend, Neu-Isenburg