TÜBINGEN. Bei kompletter Farbenblindheit können Menschen von Geburt an keine Farben unterscheiden, leiden aber auch unter einer stark reduzierten Sehschärfe und hoher Blendungsempfindlichkeit. Ursache ist ein Defekt an den Zapfen-Lichtrezeptoren in der Netzhaut des Auges, die für das Sehen im Tageslicht und von Farben zuständig sind. Von der kompletten Farbenblindheit, die auch als Achromatopsie bezeichnet wird, sind in Deutschland rund 3 000 Menschen betroffen. Die Achromatopsie kann bisher nicht behandelt werden.
Eine von Naturwissenschaftlern und Medizinern aus Tübingen und München entwickelte Gentherapie hat sich jetzt in einer klinischen Phase I/II-Studie bei Patienten am Uniklinikum Tübingen als sicher und prinzipiell wirksam erwiesen. Die erste Gentherapie einer erblichen Augenerkrankung in Deutschland soll nun bis zur Anwendungsreife weiter entwickelt werden.
Bei der Therapie wird die gesunde Version des entsprechenden Gens über ein harmloses Virus direkt in die Netzhaut der Patienten eingeschleust. Nach einigen Wochen können die Netzhautzellen die gesunde Version des Gens nutzen und das Protein bilden, das die Funktion der defekten Zapfen wiederherstellen soll. Die dabei verwendeten Gen-Fähren, sogenannte Adeno-assoziierte Viren, wurden an der Ludwig-Maximilians-Universität München von Professor Stylianos Michalakis und Professor Martin Biel entwickelt.
Beste Wirksamkeit bei Kindern
An der Uni-Augenklinik Tübingen ist nun die erste klinische Studie zu dieser Therapie am Menschen abgeschlossen worden. Dabei wurde das jeweils schlechtere Auge von neun Achromatopsie-Patienten im Alter von 24 bis 59 Jahren operativ durch Injektion des gentherapeutischen Wirkstoffes unter die Netzhaut behandelt. »Die Probanden hatten in der Folge keine wirkstoffbezogenen Gesundheitsprobleme, und ihre Netzhaut wies keine dauerhaften Veränderungen auf«, berichtet Professor Dominik Fischer, der Leiter der klinischen Studie.
Das Hauptanliegen dieser ersten klinischen Studie sei damit erreicht: Die Behandlung könne als sicher eingestuft werden. Auch bei der Wirksamkeit sei ein positiver Effekt zu verzeichnen: Die visuelle Funktion der Patienten habe sich etwas verbessert, sowohl bei der Sehschärfe als auch beim Kontrast- und Farbensehen. »Die Studie ist ein wichtiger erster Schritt und Meilenstein hin zu einer Therapie der Achromatopsie, und wir erwarten noch bessere Behandlungserfolge in der Zukunft«, sagt Professor Bernd Wissinger vom Tübinger Forschungsinstitut für Augenheilkunde, der mit Professor Biel das Gesamtprojekt leitet.
Aus Sicherheitsgründen waren die behandelten neun Patienten im Erwachsenenalter und wiesen damit eine bereits mehr oder minder stark vorgeschädigte Netzhaut auf. »Zudem verlieren die das Sehen verarbeitenden Anteile des Gehirns im Erwachsenenalter zunehmend an Plastizität«, wie Professor Marius Ueffing, Direktor des Forschungsinstituts für Augenheilkunde, betont. »Da das Gehirn von Achromatopsie-Betroffenen nie gelernt hat, Farbsehen zu verarbeiten, ist diese Plastizität eine notwendige Voraussetzung dafür, die neu gewonnene Farbsehfähigkeit der Netzhaut in einen echten Seheindruck umzusetzen.«
Nach Einschätzung der Wissenschaftler sollte daher die neue Therapie analog zum kürzlich zugelassenen Medikament Luxturna bereits im Kindesalter durchgeführt werden, um die bestmögliche Wirkung zu entfalten. »Da sich die verwendeten Genvektoren als sicher erwiesen haben, ist eine Folgestudie an pädiatrischen CNGA3-Patienten möglich und sinnvoll«, erläutert Professor Michalakis.
Eine Besonderheit: Die gesamte klinische Studie wurde ohne industrielle Unterstützung durchgeführt. Das Uniklinikum Tübingen trug die Verantwortung als Sponsor. Alle regulatorischen und organisatorischen Aufgaben übernahm die Studienzentrale am Department für Augenheilkunde unter der Leitung von Professorin Barbara Wilhelm.
»Diese Studie ist das Ergebnis einer seit vielen Jahre bestehenden und sehr erfolgreichen Kooperation zwischen Tübingen und München«, betont Biel. »Wir sind stolz darauf, dass diese weltweit erste erfolgreiche Therapie mit Unterstützung durch die Tistou und Charlotte Kerstan Stiftung hier in Deutschland entwickelt und durchgeführt werden konnte.« (u)