TÜBINGEN. Tübingen verfügt über eine Bürgermeistergalerie – eine Sammlung von Porträts früherer Bürgermeister und Oberbürgermeister. Vor allem im 20. Jahrhundert wurde es üblich, dass diese am Ende ihrer Amtszeit mit einem Porträt geehrt und die Bilder im Rathaus präsentiert wurden. In Tübingen hingen einige dieser Bilder bis zur Renovierung des Rathauses eher unscheinbar im dritten Stock und waren seit 2011 im Stadtmuseum eingelagert. Ende März werden sie, ergänzt durch Ankäufe und Schenkungen, wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
»Hinter den Porträts verbergen sich inzwischen nicht mehr bekannte oder im Lichte aktueller erinnerungskultureller Debatten auch sehr fragwürdige Biografien. Deshalb war es uns ein Anliegen, die Bilder nicht unkommentiert aufzuhängen, sondern ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das diesen Fragen Rechnung trägt«, sagt Dagmar Waizenegger, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur.
Fragwürdige Biografien
Im Zuge der Neugestaltung der Bürgermeistergalerie hat die Stadtverwaltung eines der Bilder näher untersuchen lassen: Das Porträt von Adolf Scheef, der von 1927 bis 1939 Tübinger Oberbürgermeister war und, dessen Rolle im Nationalsozialismus bis heute umstritten ist.
Adolf Scheef wurde 1874 in Nürtingen geboren. Nach Abschluss einer Verwaltungslehre trat er 1896 als Erster Assistent des Stadtschultheißenamtes in den Dienst der Stadt Tübingen, wo er sich über die Stationen eines Kauf- und Pfandratschreibers sowie Grundbuchbeamten zum Bezirksnotar emporarbeitete. Seit 1911 gehörte er als Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei dem Gemeinderat und seit 1912 dem württembergischen Landtag, vom Januar 1918 bis zum November 1919 auch dem Reichstag an. Nach dem Ersten Weltkrieg war er Gründungsmitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei in Württemberg, deren Landtagsfraktion er zwischen 1924 und 1932 vorstand. 1927 wurde er zum Tübinger Oberbürgermeister gewählt.
Die gesamte Rathausspitze, so auch Scheef, überstand die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten unbeschadet. Diese personelle Kontinuität erklärt sich unter anderem dadurch, dass die Tübinger Nationalsozialisten nicht über qualifizierte Verwaltungsfachleute verfügten. Adolf Scheef übte sein Amt als Oberbürgermeister bis zum altersbedingten Ende seiner Amtszeit im März 1939 aus. Auf Vorschlag seines Nachfolgers Ernst Weinmann, der 1946 als NS-Verbrecher in Belgrad zum Tode verurteilt wurde, wurde ihm 1939 die Ehrenbürgerwürde verliehen. Adolf Scheef starb 1944.
2013 wurde Adolf Scheef die Ehrenbürgerwürde aufgrund seiner Verstrickung in das nationalsozialistische Unrechtssystem aberkannt, 2017 die nach ihm benannte Straße auf dem Österberg in Fritz-Bauer-Straße umbenannt. Bis heute gehen die Expertenmeinungen über die Bewertung der Rolle Scheefs während der NS-Zeit und über seine ideologischen Überzeugungen auseinander: Während die einen den Handlungsspielraum Scheefs nicht eindeutig geklärt sehen, bewerten die anderen ihn als handelnden NS-Kommunalpolitiker. Für die erste These spricht, dass Scheef seit 1933 verstärkt unter der Kontrolle der Nationalsozialisten stand. Die von ihnen eingeführte Deutsche Gemeindeordnung (DGO) schloss die »gleichgeschalteten« Gemeinderäte von jeder Beschlussfassung aus. Zudem wurde in der DGO die Instanz eines Beauftragten der Partei geschaffen, der den Stadtvorstand, das heißt den Oberbürgermeister, kontrollierte.
Zunächst hatte der Kreisleiter Helmut Baumert dieses Amt inne, seit 1937 Kreisleiter Hans Rauschnabel. Das Amt des Ersten Beigeordneten, der die Amtsbezeichnung »Bürgermeister« bekam, erhielt 1935 der stellvertretende Kreisleiter und langjährige Fraktionsvorsitzende der NSDAP, Ernst Weinmann.
In Scheefs Amtszeit fielen aber auch zahlreiche Entscheidungen im Sinne der Nationalsozialisten, die Scheef initiiert oder zumindest willfährig vollzogen hat. Darunter waren die Ansiedlungen zahlreicher Parteieinrichtungen in Tübingen – unter anderem die SA-Motorsportschule, die Reichsbräute- und die Reichssanitätsschule –, das Freibadverbot für alle Juden und »Fremdrassigen«, die Lösung aller städtischen Geschäftsverbindungen zu Firmen mit jüdischen Inhabern und zahlreiche öffentliche Huldigungen Adolf Hitlers und der NSDAP.
Der Historiker Martin Ulmer bezeichnete Scheef deshalb als einen »nationalsozialistischen Oberbürgermeister ohne Parteibuch«. Denn zu einer NSDAP-Mitgliedschaft Scheefs wurde in den Archiven bisher nichts gefunden. Die Forschungsdefizite in der Untersuchung der Biografie Scheefs haben die Stadtverwaltung dazu veranlasst, sich eingehend mit seinem Porträt und dessen Entstehung zu beschäftigen: 1940 erhielt der auf der Reichenau lebende Maler Bernhard Schneider-Blumberg von Oberbürgermeister Weinmann den Auftrag, die Porträts der Oberbürgermeister Gös, Haußer und Scheef zu malen. Julius Gös (1830–1897) und Hermann Haußer (1867–1927) wurden wohl nach Fotografien gemalt, aber es ist anzunehmen, dass Adolf Scheef dem Maler Modell saß.
Hakenkreuz übermalt
Erstmals fotografisch dokumentiert ist die Galerie wieder auf einem Foto von Alfred Göhner aus dem Jahr 1955: Göhner war zugegen, als ein französischer General das Rathaus besuchte, und hielt fest, wie Oberbürgermeister Hans Gmelin und der General vor den Porträts von Goes und Scheef in der Großen Gerichtsstube, dem heutigen Trauzimmer, stehen.
Im Zuge der Neukonzeption der Bürgermeistergalerie hat das Stadtmuseum Tübingen das Porträt Scheefs in der Staatsgalerie Stuttgart untersuchen lassen. Eine Infrarotaufnahme zeigt eindeutig ein NS-Parteiabzeichen mit Hakenkreuz auf Scheefs Brust. Es ist übermalt worden. Wann, von wem veranlasst und durch wen, konnte bisher nicht geklärt werden. Die Restauratorin, die das Bild gereinigt hat, bezeichnet es als eine sehr qualitätsvolle Übermalung, die man nach über 60 Jahren kaum erkennen kann.
War Adolf Scheef also doch, entgegen bisheriger Forschungsergebnisse, Mitglied der NSDAP? Das Parteiabzeichen scheint eine eindeutige Sprache zu sprechen. Allerdings bleiben weitere Fragen offen: Wenn Scheef Parteimitglied war, warum ist dann das Abzeichen auf keinem Foto aus seiner Amtszeit zu erkennen? (a)