TÜBINGEN. In seinem Element ist Dieter Baumann ein Langweiler. Das sagt er von sich selbst. Täglich läuft er dieselbe Runde, dieselben zwölf Kilometer aus seiner Wahlheimat Tübingen hinaus und wieder zurück, am selben Gelbbauchunkenteich vorbei. »Ich will nicht nachdenken müssen, wohin ich laufe. Sonst wird es kein Genuss«, erklärt der 54-Jährige seinen diesbezüglichen Hang zur Monotonie. In seinem Arbeitsalltag ist dagegen Kurzweil oberstes Ziel: Seit Jahren verdingt sich der ehemalige Langstreckenläufer als Bühnenkünstler.
1992 gewann der Schwabe in Barcelona die olympische Goldmedaille im 5 000-Meter-Lauf. Nach seinem Rücktritt vom Leistungssport 2003 begann er eine ähnliche Zweitkarriere wie viele frühere Profiathleten: Er hielt Motivationsvorträge. Unternehmen buchten ihn dafür oder er sprach auf Tagungen. Seine Referate trugen Titel wie »Das richtige Marathon-Training« oder »Die Marathon-Diät«. Glücklich machte ihn das nicht. Baumann sah sich rhetorisch auf einem ganz anderen Terrain: »Ich bin ein Geschichtenerzähler.«
Viertes Soloprogramm
Er begann, seine Vorträge in Entertainmentformate umzuwandeln, ersetzte Zahlenreihen durch Zaubertricks. Daraus entstand die erste Abendshow. Inzwischen arbeitet er mit einer Theaterregisseurin zusammen und tourt mit seinem vierten Soloprogramm durch Deutschland. Rund 50 Auftritte hat er pro Jahr. Dann arbeitet er sich an IOC-Präsident Thomas Bach ab wie Politkabarettisten etwa an Kanzlerin Merkel. Baumann selbst gibt seinem Tun das Label »Comedy« – auch wenn er gar nicht mit jedem Satz einen Witz suche. »Ich kann die Leute in meinen Bann ziehen, aber ich bin nicht immer lustig«, sagt er.
Auf der Bühne steht er dabei allerdings nicht mehr. Sondern Baumann läuft darauf, was sollte er auch sonst? Sein aktuelles Programm absolviert er eine Stunde und 25 Minuten lang auf einem in die Bühne eingelassenen Laufband. Teils tanzt er auch darauf.
Bis vor einigen Jahren gehörte Laufen noch zu Baumanns Job als Sportler. Als Trainer betreute er Spitzenathleten wie den Mittel- und Langstreckenläufer und Vize-Europameister Arne Gabius. Doch nach und nach schien ihm die Kleinkunst reizvoller als die tägliche Analyse am Streckenrand – und einträglicher. »Als Leichtathletik-Coach verdient man kein Geld«, sagt Baumann.
Auch die ehrenamtliche Organisation des Tübinger Stadtlaufs, die er jahrelang mit Sportstudenten verantwortete, hat Baumann inzwischen abgegeben. Eine Weile lang machte er die Hälfte seiner Tätigkeiten unentgeltlich. Schlimm fand er das nicht. Aber zu zeitraubend für andere Projekte.
Zahnpasta-Affäre bleibt Thema
Mittlerweile läuft Baumann noch ehrenamtlich in Gefängnissen – eine Aktion mit jugendlichen Strafgefangenen. Er ist Aushängeschild der Stadtlaufserie einer Krankenkasse, moderiert Turn-Galas, schreibt eine Kolumne für ein Laufmagazin. Die dreht sich nicht um die wirksamsten Trainingsmethoden – sondern was immer Baumann erlebt, wird textlich verarbeitet. Eine Verbindung zum Laufen findet sich immer, irgendwie.
Autor, Comedian, Kabarettist, Künstler: So bezeichnet sich der Olympiasieger heute. Das durchgetaktete Sportlerdasein ist der Unabhängigkeit des Freiberuflers gewichen. Für den normalen Arbeitsmarkt sei er nicht mehr resozialisierbar, so Baumann. Er wolle auch mal absagen können. Künftige Ziele? »Ich bin nicht so der Planer.« Was er dagegen genau kalkuliert, sind mögliche Rezensionen seiner Bühnenprogramme. Die Sache mit der Zahnpasta bringt er deswegen in allen zur Sprache. 1999 wurde Baumann positiv auf Nandrolon getestet. Ein Unbekannter habe ihm das Dopingmittel in die Zahnpasta gemischt, erklärte Baumann. Neben der Goldmedaille war es das einschneidendste Ereignis seines Lebens.
Würde er die sogenannte Zahnpasta-Affäre nicht thematisieren, wäre das Weglassen das Erste, über das Kritiker schrieben, glaubt er. Auf Schenkelklopfer ist er damit nicht aus. »Da lacht niemand mehr«, sagt Baumann. (dpa)