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Der Protest ist am Boden: Sitzstreik von Fridays for Future in Tübingen

Es ist die erste Aktion im öffentlichen Raum seit Monaten: Fridays for Future hat heute anlässlich des globalen Klimastreiks auch in Tübingen coronakonform demonstriert.

Rund 600 Umweltschutz-Protestler trafen sich heute auf dem Tübinger Markplatz. Foto: Kathrin Löffler
Rund 600 Umweltschutz-Protestler trafen sich heute auf dem Tübinger Markplatz.
Foto: Kathrin Löffler
TÜBINGEN. Als Anneke Martens sich die großen Player vorknöpft, bläst ihr ein zapfiger Wind ins Gesicht. »Die Lobbys von fossilen Konzernen verbreiten noch sehr erfolgreich die Erzählung, dass Klimapolitik Arbeitsplätze gefährdet«, ruft sie. Martens steht hinter einem Mikrofon. Junge Leute hocken vor ihr auf dem Kopfsteinpflaster des Tübinger Marktplatzes.

Es hat drei Grad. Einige Zuhörer haben Bierkisten und Teppiche als leidlich wärmere Unterlagen herangeschleift. Der Wind bläst auch durch ihre Reihen. Aneinander Kuscheln? Ist nicht. Kreidekreuze auf dem Boden markieren eine penible Sitzordnung. Fridays for Future ist zurück in den Gassen – in Form eines Sitzstreiks, der virenfeindliche Abstände garantieren soll. Am Ende schneit es. Es gibt behaglichere Demonstrationsarten.

Erst Aktion im öffentlichen Raum seit Monaten

Für die Tübinger Ortsgruppe der Klimaschutzbewegung ist die Aktion am Freitag die erste im öffentlichen Raum seit Monaten. Coronavirus und Lockdown haben auch die traditionelle Protestkultur ausgebremst. Die Aktivisten trafen sich in den vergangenen Wochen digital und streuten ihre Botschaften über Online-Kanäle. Für Revolutionsanliegen ist die Arbeit aus dem Homeoffice allerdings ein Killer. »Der große Nachteil dabei ist: Man erreicht nur diejenigen, die sich sowieso schon für uns interessieren«, sagt FFF-Sprecherin Anne Risse. Aktionen auf der Straße schaffen dagegen Aufmerksamkeit auch außerhalb der eigenen Blase.

Fridays for Future. Foto: Kathrin Löffler
Fridays for Future.
Foto: Kathrin Löffler

Gitarrenmusik wummert aus Lautsprechern, die Tübinger Band Estate schwört die Maskenträger ein. »Tierische Produkte konsequent besteuern« und »Schaffe, Schaffe, Klima redde« steht auf mitgebrachten Pappschildern. Auf dem Marktplatz wird es voll, zu voll für gegenwärtige Umstände. 600 sind gekommen. Klima-Aktivisten und Schnelltest-Schlange drohen zu kollidieren. Die Organisatoren quartieren einen Teil des Publikums auf den Holzmarkt aus. Mehrere Redner wollen sprechen, auch ein Klima-Quiz ist geplant.

Corona hat den Klimaschutz aus dem Fokus katapultiert: Aerosole und Arbeitslosigkeit trieben Regierungen und Bürger zuletzt ärger um als schmelzende Polkappen. Risse meint: »Es ist fatal zu denken, wir müssen erst Corona bewältigen und dann die Klimakrise.« Letztere sei ein ebenso großer Notfall. Die junge Frau sähe den Kampf gegen die eine Krise gern an den gegen die andere geknüpft, Finanzspritzen sollte es ihrer Meinung nach nur für Unternehmen geben, die Klima-Auflagen einhielten. »Man hätte die Corona-Hilfen stärker an Umweltstandards knüpfen können«, findet sie.

»Man kann sich nicht freishoppen«

Allen Viren zum Trotz: Es ist einfach geworden, sich Klimaschützer zu nennen. Drogerien bieten neben Plastikflaschen meterweise feste Shampoos in fetzig pinken Papierverpackungen an, und Wurstsalat ist auch ohne seine CO2-Bilanz im Vergleich zu einer veganen Algenbowl so trendig wie ein Ischgl-Urlaub. Umweltbewusstsein demonstriert inzwischen auch Lifestyle, den man kaufen kann. Persönlichen Verzicht braucht es dazu wenig. Anne Risse hat nichts gegen solche Konsumartikel – hält sie aber lediglich für Dekoration. »Man kann sich nicht freishoppen«, sagt die Aktivistin. Um die Shopper geht es aber auch nicht.

Nach eigenen Angaben stellt Fridays for Future keine Ansprüche an Einzelne. Die Forderungen der Bewegung gelten der Politik. Hauptanliegen ist, gemäß dem Übereinkommen von Paris den weltweiten Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Kohlekraftwerke sollen zeitnah heruntergefahren, Individualverkehr soll reduziert werden. Wenn Kommunen den Klimanotstand ausrufen, empfindet Risse das als »Labelbetrug«, der junge Menschen ruhigstellen soll.

Auch Ältere machen mit

Die Tübinger FFF-Ortsgruppe bilden mehrheitlich Schüler und Studenten. Die damals 15-jährige Schwedin Greta Thunberg hatte Fridays for Future 2018 als Schulstreik aus der Taufe gehoben. Inzwischen hat die Bewegung Anhänger und Splittergruppen auf der ganzen Welt. Auch Ältere machen mit. FFF versteht sich als internationale intersektionale Klimagerechtigkeitsbewegung und als überparteilich. Die Klimaliste, die als neue Partei zuletzt bei der baden-württembergischen Landtagswahl antrat, rekrutierte allerdings viele Mitglieder aus FFF-Reihen. Ihr Wahlprogramm: dunkelgrün. Vom Einzug ins Parlament blieb sie mit 0,9 Prozent weit entfernt. Anne Risse wertet das dennoch als Erfolg. Die Grünen wüssten jetzt, dass mit einer Politik in Light-grün Wähler verloren gingen.

Fridays for Future will, dass im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung ein CO2-Budget definiert wird, das künftige Emissionen begrenzt. Anneke Martens hält ihr Publikum an, den neu gewählten Tübinger Landtagsabgeordneten dies mit reichlichen E-Mails ans Herz zu legen. Dann rieseln die ersten Flocken. (GEA)