TÜBINGEN. Die Angst bleibt. Und je mehr Zeit vergeht, ohne dass die Krankheit sich zurückmeldet, desto mehr fürchtet man sie, gesteht Hildegard Schulte-Bunz. »Man ist ständig in Habachtstellung.« Mit dem Abschluss der Therapie ist es noch lange nicht vorbei. »Der Krebs kann jederzeit zurückkommen«, weiß auch Jürgen Freudl. Weil die Erkrankung und deren Behandlung außerdem mit etlichen Begleiterscheinungen verbunden ist, beeinflusst der Krebs den Alltag der Patienten zum Teil ihr Leben lang.
»Ich hatte immer mal wieder Magenprobleme«, beschreibt Hildegard Schulte-Bunz die ersten Anzeichen ihrer Krebserkrankung. Jahrelang wurden die Symptome als Schleimhautentzündung falsch behandelt. Sorge bereitete ihr aber schließlich ein geschwollener Lymphknoten am Hals. 2012 ließ sie den Knoten dann per Ultraschall untersuchen. Es stellte sich heraus, dass sich dort bereits Fernmetastasen gebildet hatten: Streuungen eines bösartigen neuroendokrinen Tumors. Neuroendokrine Tumore kommen vor allem im Magen-Darm-Trakt und in der Bauchspeicheldrüse vor.
»Man ist ständig in Habachtstellung«
Über eine Positronen Emissions Tomographie (PET), ein nuklearmedizinisches, bildgebendes Verfahren, wurde der Herd im Darm lokalisiert. Ein 80 Zentimeter langes Stück Dünndarm musste daraufhin entfernt werden. Außerdem war die Leber mehrfach befallen ebenso wie die Adern, die den Darm versorgen. Um die Metastasen einzudämmen, musste sich Schulte-Bunz einer radioaktiven Strahlentherapie unterziehen. Die Krankheit sieht man ihr nicht an. Die Dettenhausenerin kann jedoch nicht mehr alles essen und vor allem kein Vitamin B 12 mehr aufnehmen, das ihr nun intravenös verabreicht wird, weil der Körper es braucht.
Um den Krebs in Schach zu halten, den sie niemals ganz loswerden wird, muss Schulte-Bunz nach wie vor regelmäßig bestrahlt werden. Im Gegensatz zur medikamentösen, im ganzen Körper wirkenden Chemotherapie ist die Strahlenbehandlung eine rein lokale Maßnahme: Die tumorzerstörende Wirkung tritt nur innerhalb des Bestrahlungsfeldes auf.
Eine Krebserkrankung ist eine schwere Last für Körper und Seele, für die Betroffenen selbst sowie für Angehörige und Freunde, weiß Jürgen Freudl, Vorsitzender des Fördervereins der Krebsberatungsstelle, aus eigener Erfahrung. »In einer solchen Situation ist es ein Glück, wenn man sich Menschen anvertrauen kann, die einem helfen, mit dieser Belastung fertig zu werden, die einen stützen und halten, einem Wege der Hoffnung aufzeigen.« Das leisten die Mitarbeiter der Psychosozialen Krebsberatungsstelle Tübingen. Die Einrichtung ist oft erste Anlaufstelle nach der Diagnose.
Immer mehr Krebserkrankungen können geheilt werden. Patienten können mit ihrem Krebs wie mit einer chronischen Erkrankung lange und lange gut leben, sagt Martin Wickert, Leiter der Beratungsstelle. »Wir bieten allen Betroffenen und deren Angehörigen professionelle und psychoonkologische Unterstützung und Begleitung an – in der Phase der Nachsorge und darüber hinaus.«
Viele finden sich in der Fülle an Informationen zu ihrer Krankheit nicht zurecht und sind verunsichert. Häufig angesprochene Themen sind die Partnerschaft oder die Kinder, die Arbeitssituation und Wiedereingliederung, ein Mangel an Selbstwertgefühl, finanzielle Sorgen und die Angst, nicht mehr zur Normalität zurückkehren zu können.
Die körperlichen Einschränkungen nach einer Chemotherapie, Bestrahlung oder Immuntherapie sind oft langfristig. Freudl erzählt von Empfindungsstörungen wie einem Taubheitsgefühl in Händen und Füßen. Eine der gravierendsten Nebenwirkungen ist jedoch die Müdigkeit. »Die ist ein Dauerproblem«, bestätigt Wickert. Die beeinträchtige nicht nur die Arbeitsfähigkeit, sondern führe nicht selten auch zu Depressionen.
»Man muss einen Weg finden, mit dem Fatigue-Syndrom zu leben«, sagt Wickert. Krebspatienten müssen lernen, mit dem Weniger an Energie effektiv umzugehen und Ruhephasen einzuplanen. »Die Erschöpfung ist nichts Psychisches oder Eingebildetes«, versichert Wickert. »Vielen anderen geht es genauso.«
Viele verdrängen die Krankheit. Sich ständig damit zu beschäftigen, kann auch belastend sein, weiß Freudl. Bei ihm wurde vor acht Jahren Lymphknotenkrebs diagnostiziert, alle neun Monate muss er immer noch zur Kontrolle. Das Thema ist auch dadurch immer präsent. Aber die Kontrollen geben auch Sicherheit, sagt er. Ebenso wie der Austausch mit Betroffenen in Selbsthilfegruppen und deren Bestärkung, auf dem richtigen Weg zu sein.
»Man muss einen Weg finden, mit der Krankheit zu leben«
Wegen seines schwachen Immunsystems ist Freudl anfällig für Infekte, weshalb er Menschenansammlungen meidet. Auch das Händeschütteln hat er sich abgewöhnt. Eigentlich wollte er am Sonntag am Tübinger Erbelauf teilnehmen. »Weil ich erkältet bin, geht das jetzt leider nicht«, bedauert der 64-Jährige.
Da ihre Erkrankung so selten ist, nutzt Schulte-Bunz jede Gelegenheit, Informationen zu sammeln und besucht unter anderem regelmäßig Kongresse. »Ich muss meine eigene Spezialistin sein«, sagt die 73-Jährige. Sie hat die Krankheit in ihr Leben eingebaut, will es aber nicht vom Krebs bestimmen lassen. Sie singt im Chor, geht einmal die Woche ins Fitnessstudio und unternimmt häufige Waldspaziergänge mit ihrem Mann. Die Kontaktpflege zu anderen Betroffenen ist ihr sehr wichtig, »sonst schmort man im eigenen Saft«. Doch die ständige Präsenz der Krankheit ist anstrengend. Manchmal sei sie überrascht, noch zu leben.
Ziel ist es, einen eigenen Weg zu finden, mit den Belastungen umzugehen und das seelische Gleichgewicht wieder zu finden, sagt Wickert über die Begleitung der Beratungsstelle von Patienten zurück in den Alltag nach Krebs. »Das Leben soll eine neue Perspektive bekommen.« (GEA)
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ÜBERLEBEN MIT KREBS
Zur Premiere ihres Buches »Heilung auf Widerruf – Überleben mit und nach Krebs« lädt Petra-Alexandra Buhl am Dienstag, 17. September, ins Museum (Obere Säle), Wilhelmstraße 3 ein. Die Lesung in Kooperation mit dem Comprehensive Cancer Center Tübingen-Stuttgart mit anschließendem Gespräch beginnt um 19 Uhr. Die Autorin lässt Menschen zu Wort kommen, die ihren Krebs vor zehn und mehr Jahren besiegt haben. Wie ihre Interviewpartner hat auch Buhl die Erfahrung gemacht, dass sie sich mit der Krankheit arrangieren musste, um sich ihr nicht restlos auszuliefern. (GEA)