TÜBINGEN. Er ist der wohl deutschlandweit bekannteste Oberbürgermeister einer Kleinstadt - und er fällt immer wieder mit klaren und pointierten Aussagen zum Thema Flüchtlinge und Migration auf. Nach der Messerattacke von Solingen ist die bundesweite Debatte um Asyl neu entbrannt. Wer sollte Asyl erhalten und wer nicht? Welche Probleme gibt es in den Kommunen mit kriminellen Flüchtlingen? Und wie könnte man gegensteuern. Im Interview mit dem GEA bezieht Boris Palmer Stellung.
GEA: Sie sind Bürgermeister einer Kleinstadt – und deutschlandweit gefragter Migrationsexperte. Warum ist Ihnen das Thema denn so wichtig?
Boris Palmer: Weil es auf der kommunalen Ebene seit 2015 einfach zum wichtigsten Thema geworden ist. Es verändert zum einen das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen in verschiedensten Bereichen: Wohnen, Kindergarten, Schule, Arbeit, Sicherheit. Und es wirkt sich auch extrem finanziell auf die Gemeinden aus.
Sie haben neulich auf Facebook mehr Vernunft in der Migrationsdebatte angemahnt. Wie vernünftig ist die Debatte in der grünen Musterstadt Tübingen?
Palmer: Sie ist in ganz Deutschland von beiden Seiten sehr unvernünftig. In Tübingen kommt die rechte Seite kaum vor, deswegen ist hier die linke Seite stärker sichtbar. Das ist auch in Ordnung. Aber ich kann damit natürlich nicht wegwischen, dass es auch Probleme gibt mit der Überforderung der kommunalen Leistungsverwaltung. Und besonders auch mit der Kriminalität von Geflüchteten.
Jetzt schlägt man von Unionsseite eine härtere Gangart in puncto Migration vor. Das müsste Sie doch zufrieden stellen? Das fordern Sie doch schon lange…
Palmer: Ich finde »sachlicher« ist die bessere Beschreibung für meine Forderung. Das bedeutet für mich beispielsweise, dass jemand, der in unser Land kommt, weil er Sicherheit sucht, gehen muss, wenn er zum Sicherheitsrisiko wird. Das war lange fast nicht aussprechbar, da wurde man sofort als Rassist und Nazi abgekanzelt. Jetzt hab ich aber den Eindruck, dass es gekippt ist, und zwar rasend schnell. Jetzt können die Forderungen auf einmal gar nicht hart genug sein. Ich habe immer gesagt: Wer straffällig geworden ist, der muss gehen. Aber doch nicht gut integrierte Angestellte in Berufen, für die man händeringend Kräfte sucht...
Haben Sie hierfür Beispiele aus Tübingen?
Palmer: Es war alles auf Abschiebung programmiert für einen unersetzlichen Fahrradmechaniker aus einem afrikanischen Land in einer Tübinger Werkstatt. Da hat am Ende nur noch der Härtefallausschuss des Landtags geholfen. Es ist mir gelungen, den Ausschussvorsitzenden, der früher Landrat war, direkt anzusprechen. Der Mann durfte bleiben. Bei einem Lagerarbeiter einer Tübinger Sportartikelfirma hatten wir dieses Glück nicht. Da kam jede Intervention zu spät, der wurde abgeschoben.
Werden die falschen Menschen abgeschoben?
Palmer: Sicher oft, ja. Man muss wissen: Die Leute, die zur Arbeit gehen, die findet man eben auch, die kann man abschieben, die haben Papiere. Während die, die uns wirklich Probleme machen, bis vor Kurzem einfach in der Flüchtlingsunterkunft ins Nachbarzimmer bei einem Kumpel geschlüpft sind. Und dann durfte die Polizei sie da nicht mehr holen für die Abschiebung - wegen der Unverletzlichkeit der Wohnung. Zehn Jahre haben die Gemeinden das kritisiert, jetzt wurde es endlich geändert.
An welchen Stellschrauben könnte die Bundes- und Landespolitik noch drehen?
Palmer: Ich hab mit Richard Arnold, OB von Schwäbisch Gmünd, dazu vor acht Jahren einen Text in der Zeit veröffentlicht. Wir haben das den »doppelten Spurwechsel« genannt. Jeder, der hier einen Job übernimmt, der nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt und einigermaßen unsere Sprache lernt, der sollte auch die Chance haben, sich das Bleiberecht zu verdienen. Umgekehrt heißt das für uns aber auch: Selbst wenn man aus einem Land kommt, aus dem man eigentlich Asylanspruch hat, ist halt Schluss, wenn man zum Vergewaltiger, Serienräuber oder Mörder wird.
Gibt's weitere Punkte, die schnell geändert werden sollten?
Palmer: Die Stadt hat als Ausländerbehörde alle Informationen über Straftaten von Asylbewerbern vorliegen. Sie darf diese Infos aber nicht an die Sozialarbeiter weitergeben. Das hat mir der Landesdatenschutzbeauftragte vor fünf Jahren untersagt. Heißt: Unsere Sozialarbeiter sind bewusst blind gehalten. Die wissen nichts über eine Gefahr, die von einem Asylbewerber ausgehen kann. Und sie können auch nicht präventiv tätig werden.
Jetzt gehen wir mal davon aus, dass auch das irgendwann geändert wird. Die Sozialarbeiter wissen also, welcher Flüchtling welche Vorstrafen hat. Was wäre der nächste Schritt?
Palmer: Das ist der zweite Teil des Spurwechsels. Der Wechsel in Richtung Ausreise, wenn man hier immer wieder gegen das Gesetz verstößt. Man könnte beispielsweise die Flüchtlinge, die keinen Pass mitbringen, so lange in Landesaufnahmestellen zurückhalten, bis sie ihre Identität nachweisen. Das wäre ein großer Anreiz, dass sie es irgendwann tun - und dann hätte man für eine Abschiebung auch Papiere zur Verfügung. Letztes Jahr konnten deutschlandweit immer noch 56 Prozent aller Flüchtlinge keinen Pass vorzeigen. Und wenn man merkt, dass Flüchtlinge in den Kommunen immer wieder straffällig werden, könnte man sie zurückschicken in die Landeseinrichtungen. Da kann man sie mit Sicherheitspersonal in Schach halten und da fehlt ihnen auch der kriminelle Betätigungsraum. Es wäre ein starker Anreiz, sich gesetzeskonform zu verhalten und zu versuchen, zu arbeiten.
Fühlt man sich als Kommune wie Tübingen also ein bisschen am unteren Rand der Kette? Nach dem Motto: Das Land schiebt die Flüchtlinge zu euch ab – und ihr habt keine Möglichkeit mehr, sie wieder zurückzuschieben?
Palmer: Eigentlich sind die Länder verpflichtet, die Asylverfahren in den Einrichtungen zu Ende zu führen. Das tun sie aber oft nicht, wenn die Papiere nicht beschafft werden können. Also ja: Die Länder machen sich da einen schlanken Fuß. Und es wäre für das Funktionieren des Asylsystems eben so wichtig, dass man spätestens da sortiert wer hilfsberechtigt ist und wer nicht. Wenn man es an der Grenze schon nicht hinbekommt.
Wie bewerten Sie die Abschiebung der 28 Afghanen nach dem Anschlag von Solingen?
Palmer: Ich fand den Zeitpunkt schlecht. Wenn man jahrelang sagt, es sei unmöglich, und es dann drei Tage vor zwei wichtigen Landtagswahlen tut... Also da muss man als Bürger schon den Eindruck gewinnen: Hier geht es nur um Symbolpolitik. Und man fühlt sich vielleicht eher verarscht als verstanden. Aber in der Sache bin ich überzeugt, dass das für viele eine große Chance ist zur Versöhnung mit dem Staat. Wenn es keine einmalige Aktion bleibt.
Jetzt haben die Afghanen jeweils 1.000 Euro bekommen...
Palmer: Das finde ich pragmatisch. Und zwar aus zwei Gründen. Die Kosten, solche Leute bei uns zu behalten, sind innerhalb einer Woche bei 1.000 Euro. Deswegen würde ich da einfach sagen: Nehmt das Geld und verschwindet. Und dann sind wir eben ein demokratischer Rechtsstaat. Wir können nicht einfach Leute irgendwo in der Wüste aussetzen, ohne Wasser und Brot. Da würden die Gerichte intervenieren.
Vor einigen Wochen hat der Syrer Khalil H. in Stuttgart einen Mann niedergestochen. Er hat 33 Straftaten begangen, seine ganze Famlie mehr als 100. Gibt es solche Fälle auch in Tübingen?
Palmer: Ja, das haben wir auch. Jetzt nicht in dem Ausmaß. Aber wir haben immer wieder Serienstraftäter, bei denen man viel früher intenvenieren müsste, bevor es zu einem wirklich schlimmen Angriff kommt. Denn sowas kommt meistens nicht aus heiterem Himmel.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Palmer: Ich hab mir viel Ärger damit eingehandelt darauf hinzuweisen, dass der Mann aus Gambia, der im März 2023 im Alten Botanischen Garten erstochen worden ist, eigentlich alle Chancen hatte. Er hatte ein städtisches Stipendium für eine Ausbildung, hat dann aber alles hingeschmissen und ist stattdessen lieber in den Drogenhandel eingestiegen. Im Laufe der Jahre haben sich über 20 Einträge in seiner Ausländerakte angesammelt: Versuchte Vergewaltigung, Drogenhandel, Widerstand gegen Polizisten, da war alles dabei. Und es wurde eben dagegen nichts unternommen. Alle, die hätten hinschauen können, haben aus irgendwelchen Gründen nicht gemerkt, was passiert. Und das ist fahrlässig. Der Mann könnte wahrscheinlich noch leben, wenn man sich rechtzeitig um ihn gekümmert hätte.
Niemand wusste Bescheid?
Palmer: Ich hab zum Beispiel mit dem städtischen Sozialarbeiter gesprochen, der nur für den Drogenhandel im Bota zuständig ist. Und der mit dem Mann oft in Kontakt war. Der Sozialarbeiter ist aus allen Wolken gefallen... Er hat gesagt, er hatte nicht die geringste Ahnung von dieser kriminellen Karriere gehabt.
Wie kann das sein?
Palmer: Naja, wir durften es ihm nicht sagen, wie schon erwähnt. Außerdem ist unser Strafgesetzbuch für diese Fälle nicht wirklich geeignet. Mit Drogenhandel kannst du am Tag schnell 50 Euro verdienen. Wenn du erwischt wirst, wird deine Geldstrafe nach deinem sichtbaren Einkommen bemessen. Und das ist in diesem Fall nur Asylbewerberleistung. Formal sind diese Leute mittellos. Und dann ist die Strafe mit drei oder vier Tagen Drogenhandel wieder drin. Was für uns eine riesige Strafe ist – also wegen Drogenhandels verurteilt zu werden -, das stört in dieser Konstellation gar nicht. Für den Job hat es gar keine Konsequenz.
Würden Sie also zusammenfassend sagen, dass wir 2015 zu naiv waren?
Palmer: Also es wurde viel gesagt, was sich nicht bewahrheitet hat. Ob jetzt der Begriff naiv richtig ist… vielleicht war es auch Begeisterung? Enthusiasmus? Es hat mir auf jeden Fall von Anfang an der Realismus und der Pragmatismus gefehlt. Ich hab 2015 schon Interviews gegeben, in denen ich darauf hingewiesen hab: Die Leute, die da kommen, stammen überwiegend aus Ländern, in denen Gewalt alltäglich ist und das Rollenbild von Männern ein völlig anderes. Die einfach ganz andere Vorstellungen von einer Gesellschaft haben. Und es ist doch wirklich nicht zu erwarten, dass sie diese Vorstellungen an der Grenze alle ablegen und einfach so sind, wie wir uns das wünschen. Dann hat beispielsweise Katrin Göring-Eckardt (Grüne) gesagt: »Unser Land wird sich ändern und ich freu mich drauf.« Das hat mich wirklich schwer betroffen gemacht.
Veränderung ist ein gutes Stichwort. Reutlingens OB Thomas Keck hat im GEA-Interview über migrantische Männergruppen in der Innenstadt neulich gesagt, die Gesellschaft verändere sich, das sei so. Sehen Sie das auch so? Kann man daran nichts ändern?
Palmer: Ja und nein. Wir müssen uns schon dran gewöhnen, dass in manchen Gegenden die Hälfte der Schulkinder Deutsch als Zweitsprache lernen müssen. Diese Remigrationsfantasien sind absurder Quatsch. Aber man kann natürlich die öffentliche Wirkung kontrollieren. Das, was die Leute stört, ist ja nicht die Tatsache, dass in unserem Land viele Menschen leben, die Migrationshintergrund haben. Die Leute regt auf, dass sich einige offenkundig nicht in unsere Gesellschaft integrieren, sondern als große Gruppen den öffentlichen Raum dominieren. Die Ängste der Menschen diesbezüglich hat man zu lange tabuisiert. Der Schlüssel zur Lösung des Problems ist: Die Leute in Arbeit zu bringen. Da knüpfen sie Kontakte zu anderen Menschen, da lernen sie die Sprache und haben gar keine Zeit mehr, in großen Männergruppen negativ aufzufallen. So wird Akzeptanz bei den Menschen hier gefördert. (GEA)