TÜBINGEN. Was kommt wohl zuerst, Reutlingen oder Tübingen? Tübingens Oberbürgermeister und Hausherr Boris Palmer gab sich versöhnlich und fügte sich in die alphabetische Reihenfolge: Reutlingen kommt vor Tübingen. Bei der 25-Jahr-Feier der Technologieförderung Reutlingen-Tübingen GmbH standen die beiden Städte gleichberechtigt im Rampenlicht, weil der interkommunale Technologiepark an beiden Standorten Erfolge feiert - in Tübingen bei der Sternwarte, in Reutlingen im Industriegebiet Mark West. Die Party stieg im Tübinger Forschungs- und Entwicklungszentrum von Amazon.
Die »Eifersüchteleien« seien Geschichte, glaubt Palmer und erinnerte an das Geburtsjahr 1999, als das nicht selbstverständlich war. Die »Ehe ungleicher Partner« habe sich zur Erfolgsgeschichte entwickelt: Aus dem Technologiepark sprudelt inzwischen mehr Gewerbesteuer, als die Städte an Zuschuss hineinzahlen. Nach 25 Jahren habe sich der »faire Ehevertrag« bezahlt gemacht.
Ein »fairer Ehevertrag«
Der Erfolg ist messbar: Ausgründungen aus den wissenschaftlichen Instituten zogen qualifizierte Mitarbeiter an, mittlerweile sind es 3.000. Der Tübinger Standort ist spezialisiert auf Biotechnologie, Medizintechnik und Bioinformatik - dafür stehen CureVac, Immatics Biotechnologies, Ovesco Endoscopy und CeGaT. Im Reutlinger Industriegebiet Mark-West auf Kusterdinger Gemarkung liegt der Schwerpunkt auf Nanotechnologie, Sensorik und Mobilität - Beispiele sind Mediagnost, TETEC, Kleindiek und Bosch Sensortec.
Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck sprach vom »Vorbildcharakter in Deutschland«. Nächste Woche komme in Reutlingen zu den bisherigen fünf ein sechstes Gebäude für 250 weitere Arbeitsplätze hinzu. Vier weitere Baufelder gibt es noch, dann ist das Potenzial des Reutlinger Geländes ausgeschöpft.
Ein »Vorbildcharakter« in Deutschland
Zu Wort kamen Urgesteine wie Prof. Dr. Claus Clausen, ehemals Dekan der medizinischen Fakultät in Tübingen. Er erinnerte an den Grundgedanken, Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen. Eifersüchteleien und Arroganz gab es damals durchaus. Prof. Dr. Hugo Hämmerle beantwortete die Standortfrage des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts (NMI) in Reutlingen so: »Tübingen wollte es nicht.« Die anwenderorientierte Forschung sei der altehrwürdigen Alma Mater suspekt gewesen, man habe vom Reutlinger »Flaschenlager« gesprochen, erinnerte sich der NMI-Leiter. In einer Zeitung wurde die Reutlinger Einrichtung gar als »Hure des Kapitals« disqualifiziert.
So landete das NMI zunächst in der Lehrwerkstatt der ehemaligen Bruderhausfabrik, wo heute die Stadthalle steht. Hämmerle lobte den Mut und die Vision des damaligen Reutlinger Wirtschaftsbürgermeisters Rainer Hahn und des Wirtschaftsförderers Wolfgang Geisel, im Gewerbegebiet Räume bereitzustellen. Er appellierte an die beiden Stadtverwaltungen, im Bemühen nicht nachzulassen: »Haben Sie Mut, seien Sie großzügig.«

Der Reutlinger Wirtschaftsförderer Peter Wilke lobte ebenfalls seinen Vorgänger Geisel als »Gründervater« des gesamten Unternehmens. Ihm fiel besonders eine Firma ein, der er den Erfolg am wenigsten zugetraut hätte: Curevac, heute weltweit anerkanntes biopharmazeutisches Unternehmen am Standort Tübingen. Ein Speziallabor für eine Million Euro hätten die Mitarbeiter damals bekommen, in dessen Tür sich Wilke bei der Eröffnung einen Finger gebrochen hatte - »mein einziger Dienstunfall«.
Gefeiert wurde im Amazon-Gebäude mit einem Jubiläumsbier: Ein Pale Ale der Brauerei Freistil namens »Schluckimpfung«. Das Etikett am Flaschenhals erinnerte an das, was die Technologieförderung Reutlingen-Tübingen GmbH ist: Eine gemeinsame Tochtergesellschaft beider Städte, der Gemeinde Kusterdingen, IHK Reutlingen sowie der regionalen Volksbanken und Kreissparkassen, 1999 gegründet mit dem Ziel, die Gründungen aus der Wissenschaft zu unterstützen, anzusiedeln und so langfristig in die Technologiefelder der Zukunft zu investieren. Die »Schluckimpfung« lag mit 5,3 Prozent Alkoholgehalt wie der zu feiernde Anlass über dem Durchschnitt. (GEA)