REUTLINGEN. Sören Fuß setzte sich in seinen schwarzen Geländewagen und brettert über eine zwei Kilometer lange Bundesstraße, gesäumt von dunklen Tannen. Hier, inmitten des Schwarzwaldes, wirkt die Welt wie unberührt. Der Weg erinnert jedoch an die 1 700 NS-Zwangsarbeiter, Hunderte von ihnen überlebten nicht – sie stammen aus 21 Nationen, darunter fünf Juden, und starben bei dem Versuch, in den letzten Kriegstagen in einem Bergwerkstollen einen Rüstungsbetrieb hochzuziehen.
Fuß biegt ab und fährt eine Waldstraße hinauf, vorbei am Besucherparkplatz. »Diese ganze Strecke mussten die Arbeiter jeden Tag zurücklegen, morgens und abends, manche brachen vor Erschöpfung auf der Straße zusammen«, sagt er. Er parkt seinen Wagen am Beginn eines Waldweges. Dort ist ein Schild aufgestellt – »Gedenkstätte Vulkan«.
Auf den ersten Blick ist der Wald wie verwunschen. Die Tannen stehen so dicht beieinander, als würden sie flüstern. Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne schieben sich durch die Äste, Laub und Moos bedecken den Weg. Doch hinter dem Berg, von hier nicht sichtbar, liegt eine Mülldeponie, und nicht lange, da hallen aus der Ferne Schüsse, keine 300 Meter entfernt ist die Anlage des Haslacher Schützenvereins Vulkan. Früher beklagte sich Fuß über diesen Lärm und diese Nähe, inzwischen nimmt er es hin. »Es ist nicht ideal, aber wenn eine Gedenkveranstaltung ist, schießen sie nicht. Darauf haben wir uns geeinigt.«
Das Zentrum der Gedenkstätte ist ein schräg auf dem Boden liegendes Metallkreuz, getragen von Steinen, darunter eine Tafel mit der Inschrift: »Man ist nicht nur verantwortlich für das was man tut, sondern auch für das, was man geschehen lässt. Zum Gedenken an unermessliches Leid, das Menschen von Menschen zugefügt wurde.«
»Wenn eine Gedenkveranstaltung ist, schießen sie nicht«
Sören Fuß archiviert die Vergangenheit. Ein ehemaliger Lehrer, der das Bundesverdienstkreuz trägt, weil er seine gesamte Freizeit für den Erhalt der Gedenkstätte opfert. Er führt Schüler und Erwachsene durch die Orte der NS-Diktatur und recherchiert für Angehörige, was aus ihren Verwandten wurde. Dieses Wissen heftet er seit Jahrzehnten feinsäuberlich in Hunderten von Ordnern ab. Wissen, das in der Zukunft in deutschen Wohnzimmern verstaubt oder verloren geht, wenn Menschen wie er nicht mehr sind. Denn Fuß hat einen Feind: die Zeit.
»Vulkan« ist eine der kleinsten deutschen Gedenkstätten, die an die Nazi-Diktatur erinnern. Mehr als 70 solcher Gedenkorte gibt es in Baden-Württemberg, fast alle werden nur von Ehrenamtlichen gepflegt. Allein die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm und die Gedenkstätte Grafeneck haben hauptamtliche Mitarbeiter. Wenn man Historiker, Initiativen und Ehrenamtliche zur Zukunft von Gedenkstätten befragt, sind sich alle einig: Ehrenamt ist so, wie es heute noch betrieben wird, nicht mehr möglich.
Sören Fuß ist ein kleinerer Mann, 76 Jahre, ein ehemaliger Lehrer, der gerne pastellfarbene Hemden und beige Bügelfaltenhosen trägt, die Füße in Trekkingsandalen steckt, einen grauen Schnauzer hat und auf seiner Nase sitzt eine Brille mit schwarzem Rand. In der Ecke seines Büros steht eine verstaubte, goldfarbene Oskarfigur – »für den engagiertesten Lehrer« steht darauf. Ein Geschenk von seinen damaligen Schülerinnen und Schülern.
Fuß läuft einen kleinen Hügel abwärts und deutet auf eine Lichtung. Zwölf Informationstafeln in Hufeisenform erzählen in Text und Bild jeweils eine andere Facette der Haftbedingungen. Ein paar Kratzer ziehen sich über die Tafeln. Dort stehen die Namen der ums Leben gekommenen Zwangsarbeiter. »Hier«, Fuß weist auf das Kreuz, »ist der letzte Punkt, wenn ich Schüler herumführe.« Er erinnert sich, wie Schulgruppen vor ihm standen und aufmerksam lauschten, als er aus seiner Hosentasche zwei Zeitungsartikel hervorkramte. »Es wurde Hass gesät in den Zeitungen und wie die Gruppierungen an die Macht kamen, machte das Volk mit.« Er sage dann immer: »Vermutlich komme ich euch jetzt vor wie ein Moralapostel, aber es ist eure Zukunft, die ihr bestimmt. Manche von euch interessiert es nicht, andere vergessen es wieder, aber wenn nur einer von euch darüber nachdenkt, dann hat es sich für mich schon gelohnt.«
Im Moment kommen wegen der Pandemie keine Schulklassen mehr. Fuß bückt sich und zieht ein Stück Unkraut zwischen den Steinen heraus. »Da muss der Herbert wieder kommen«, sagt er.
Sören Fuß und sein Freund Herbert Himmelsbach sind von Anfang an ein Team. Fuß kümmert sich um das Inhaltliche, Himmelsbach hält die Gedenkstätte sauber. Er ist mit seinen 69 Jahren ein gutes Stück jünger als Fuß. In der Früh, wenn die Welt noch schläft, kraxelt Himmelsbach über einen Baumstumpf, hebt Äste und Zweige auf, die am Boden der Gedenkstätte liegen und recht über den Kies. Danach zieht er das Unkraut aus dem Boden. Zieht ein Sturm über das Dorf, ruft Fuß seinen Freund an, damit Himmelsbach am nächsten Tag die herabfallenden Äste und Zweige einsammelt.
Am Anfang hatten Sören Fuß und sein Freund Herbert Himmelsbach nie vor, selbst eine Gedenkstätte ins Leben zu rufen. Sie wollten dafür sorgen, dass ein Gedenkstein aufgestellt wird. Doch dann kam bei einer SPD-Sitzung 1996 alles anders, als der Vorschlag im Raum steht, in Haslach eine Gedenkstätte zu errichten. Fuß und sein Freund und SPD-Genosse Herbert Himmelsbach tuscheln. »Das wird so nie was, einen Gedenkort zu machen ohne Geld«, sagt der eine dem anderen ins Ohr. »Da müssen wir was tun«.
Fuß beginnt Geld zu sammeln, bekommt 20 000 Deutsche Mark aus Brüssel und nochmal so viel von Daimler-Benz aus Stuttgart, erzählt er. Der Autokonzern hat vor Langem entschieden, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen. Jedes Jahr schickt Daimler-Benz Auszubildende nach Polen, wo sie für knapp zwei Wochen helfen, Gedenkstätten instand zu halten und Gespräche mit Zeitzeugen führen. Am 25. Juli 1998 eröffnet die Gedenkstätte »Vulkan«. Der Bürgermeister ist anwesend, Überlebende und Familienangehörige kommen, an die 200 Menschen sind da.
An seinen Bürowänden lehnt eine Bücherwand, vollgestopft mit Büchern und Ordnern, die die NS-Geschichte von Haslach dokumentieren. Auf den Regalrücken kleben Punkte in blau, rot, grün oder orange. Sie sortieren sein Wissen über die Gedenkstätte, die Fuß bald in neue Hände geben möchte: Briefe von Überlebenden und deren Familien oder Notizen wie eine Führung von Anfang bis Ende funktioniert. »Mir tut derjenige Leid, der das mal in die Hand kriegt, wenn ich das nicht mehr mache«, sagt er. Es ist sein Wunsch, dass zum Ende seines Ehrenamts nur noch zehn Ordner in seinem Regal stehen. Dann hätten die Nachfolger keine Angst vor seinem »Erbe« und könnten den Inhalt bewältigen.
Wie andere Vereine stehen Gedenkstätten zunehmend vor dem Problem, ehrenamtlichen Nachwuchs zu gewinnen. Findet sich mal ein Schüler, ist er im nächsten Semester am anderen Ende Deutschlands zum Studieren weggezogen. Solche Momente gibt es oft.
Was passiert mit den Archiven, die Menschen wie Sören Fuß über Jahrzehnte erarbeitet und in ihren Wohnzimmern und Büros in Ordnern abgeheftet haben? Thomas Lutz sagt, er und seine Kolleginnen dächten intensiv darüber nach. Sie wollen Mitarbeiter einstellen, die den Nachlass von Menschen wie Fuß sichern. Sie werden durch deren Wohnzimmer und Büros gehen, Notizen abschreiben, Dokumente kopieren, sodass dieses wertvolle Material nicht mit dem Tod der Pensionisten mitstirbt.
Wenn Fuß Erwachsene durch die Gedenkstätte führt, schaut er sich diese besonders gut an, um vorzufühlen, ob jemand dabei ist, der sein Nachfolger werden könnte. Einmal glaubte er fündig geworden zu sein und rief den jungen Lehrer Matthias Demmel an: »Sie wären genau der Richtige. Wollen Sie die Gedenkstätte nicht übernehmen?«
»Tut mir leid, ich bin Vater von zwei kleinen Kindern, Ehemann, Lehrer und Schulleiter – ich habe mein Leben bereits anders geplant«, habe er ihm gesagt und lehnte ab. Matthias Demmel, Schulleiter einer Förderschule im Nachbarort von Hameln, versucht Sören Fuß unter die Arme zu greifen, selbst einmal Führungen anzubieten. Mit seinen knapp 40 Jahren wäre er für Sören Fuß der perfekte Nachfolger. Ein junger Lehrer, der engagiert ist. Aber auch er hat einen Beruf, ist zweifacher Familienvater – er hat ein eigenes Leben. Demmel fragt sich: »Wer will sich denn heute noch über zehn, 20 Jahre in einem Verein engagieren?«
»Wollen Sie die Gedenkstätte nicht übernehmen?«
Eine Gedenkstätte zu übernehmen, wie sie Fuß führt, ist ein Vollzeitjob. Demmel möchte ihm ein wenig unter die Arme greifen, Führungen abhalten – irgendwann. Aber mehr nicht, zumindest nicht allein. Ein weiterer pensionierter Lehrer möchte Menschen durch »Vulkan« führen, die Archivarbeit, das Administrative bleibt weiterhin an Fuß allein hängen.
Fuß hat alles für eine Versöhnung zwischen Deutschland und den Opfern des Krieges gegeben. Er hofft so sehr, dass etwas für die Zukunft bleibt. Dass nicht vergebens war, wofür er gekämpft hat. Dass die Erinnerung nicht schwindet. Dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Und: Dass jemand seinen Platz einnimmt.
Menschen wie Fuß archivieren die Vergangenheit. Er hat sein halbes Leben damit verbracht, an das Leid des Nationalsozialismus zu erinnern. Ohne Geld, ohne Profit – einfach aus einem Idealismus heraus. 75 Jahre sind ein ganzes Menschenleben. Was mit Gedenkorten wie »Vulkan« passiert, wenn Fuß nicht mehr ist – das weiß noch niemand. (GEA)