KARLSRUHE. Der Karlsruher Kurt Knittel war vor und nach dem Krieg Lehrer. Dazwischen machte er Karriere bei der SS. Er brachte es bis zum SS-Oberscharführer und im Konzentrationslager Auschwitz zum Leiter der Abteilung IV »Fürsorge, Schulung, Truppenbetreuung«. Neben den Schulungen organisierte er ein Kulturprogramm für die SS-Wachleute mit Opern- und Theateraufführungen. Nach dem Krieg machte Knittel wieder Karriere. Er wurde Regierungsschulrat beim Oberschulamt in Karlsruhe. Außerdem kandidierte er für die FDP für den Karlsruher Gemeinderat. Kurt Knittel war Gründer und Leiter der Jugendbühne des Badischen Staatstheaters, Geschäftsführer der Karlsruher Volksbühne und Mitglied des Schulbeirats des Südwestfunks. Ein Überblick über die Karriere eines Nazis, der wohl nie selbst einen Häftling tötete und trotzdem zum Funktionieren des Systems Auschwitz beitrug.
- Was machte Knittel vor dem Krieg?
Knittel war Volksschullehrer und engagierte sich ab 1933 ehrenamtlich bei der SS, wo er sogenannte Heimabende und Schulungen abhielt. Als Volksschullehrer war er Mitglied im NS-Lehrerbund. Es ist davon auszugehen, dass er seine Schüler im Sinne der Partei indoktrinierte.
- Wie verlief Knittels SS-Karriere?
Ab 1935 war er SS-Sturmschulungsmann bei der 62. SS-Standarte in Karlsruhe. 1938 war er für Schulungen und Kulturabende an der Kolonialpolizeischule Oranienburg zuständig, ein Jahr später für die Schulungen des SS-Wachpersonals im Konzentrationslager Sachsenhausen. Ab 1942 wurde er als Schulungsführer für das Wachpersonal ins KZ Auschwitz versetzt. Nach der Evakuierung von Auschwitz wechselte er wiederum als Schulungsführer ans KZ Mittelbau-Dora in Thüringen. Wegen seiner »salbungsvollen Stimme« wurde Knittel vom SS-Personal auch »Truppen-Jesus« genannt. Für seine »Verdienste um die Moral der Truppe« wurde er zum SS-Oberscharführer befördert und mit dem Kriegsverdienstkreuz II ausgezeichnet.
- Wozu benötigte die SS Lehrer?
Zunächst wurden die Lehrer für ideologische Schulungen innerhalb der SS eingesetzt. Diese sollten den Zusammenhalt und den Fanatismus der Truppe stärken. Während des Kriegs kamen für die Wachmannschaften der Konzentrationslager weitere Aufgaben hinzu. Denn etwa 40 Prozent der Wachleute in Auschwitz bestanden aus Volksdeutschen, also Deutschstämmigen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit aus Ungarn, dem Elsass, der Slowakei und Kroatien. Später wurden Volksdeutsche auch aus den Reihen kriegsgefangener Rotarmisten rekrutiert, die sogenannten Trawniki-Männer (nach dem SS-Ausbildungslager Trawniki bei Lublin im Osten des heutigen Polen). Diese Wachleute konnten oft nicht gut Deutsch, sodass sie zunächst in der deutschen Sprache unterrichtet werden mussten, damit sie den Befehlen gehorchen konnten. Außerdem mussten diese Männer, die oft nicht dem zuvor idealisierten Bild des Ariers entsprachen, indoktriniert werden. In einem Fall ist ein Bericht überliefert, dass ein Trawniki-Mann im Konzentrationslager Buchenwald seinen Bruder auf der anderen Seite des Häftlingszauns erkannte. Auch die Ideologie der SS wurde von Schulungsleitern wie Kurt Knittel entsprechend angepasst: In den Reden aus dieser Zeit ist plötzlich auffallend oft von »Europa« die Rede.
- Warum gab es in Auschwitz ein Kulturprogramm?
Im Sommer 1944 – also während in Auschwitz Millionen ungarische Juden umgebracht wurden – schreibt Kurt Knittel, wie er Opernkonzerte und Theateraufführungen organisiert, damit sich die Wachleute von ihrem »schweren Dienst« erholen können. Mit dem »schweren Dienst« ist der millionenfache Mord gemeint. Es gibt Berichte, dass dieses Töten den SS-Mördern psychisch zugesetzt hat. Deshalb war das Kulturprogramm wichtig, um die SS-Leute bei der Stange zu halten, urteilt Historiker Stefan Hördler im ARD-Podcast »NS-Cliquen« (in der ARD-Audiothek verfügbar).
- Kulturmensch und SS-Mann: War das für Knittel kein Widerspruch?
Offenbar nicht. Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1938 auf dem SS-Männer, darunter Knittel, mit einem dunkelhäutigen kubanischen Musiker posieren, der bei einem der von Knittel organisierten Kulturabende aufgetreten ist. Knittel schreibt aus Auschwitz an seine Frau über die Qualität der Shakespeare-Theateraufführungen in Kattowitz und den drohenden »Büchermangel« im Krieg. Er scheint sich also auch in Auschwitz noch als Bildungsbürger gesehen zu haben, urteilt Hördler.
- Wie erging es Knittel nach dem Krieg?
1948 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und – nachdem ihm sein Hausarzt einen sogenannten »Persilschein« ausgestellt hatte – von den Amerikanern als »Minderbelasteter« eingestuft. Die Spruchkammer belegte ihn wegen seiner NS-Tätigkeit mit einer Geldstrafe von 1.000 Reichsmark und einer Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren. Knittel arbeitete zunächst als Dramaturg bei einer Villinger Wanderbühne, wurde aber bereits 1949 wieder als Lehrer an einer Mittelschule eingestellt. 1957 stieg er beim Oberschulamt Karlsruhe zum Referenten für Volks-, Mittel- und Sonderschulen auf, zwei Jahre später wurde er gar zum Regierungsschulrat befördert.
- Warum bekam Knittels Karriere doch noch einen Knick?
Im Frankfurter Auschwitzprozess 1962 tauchte sein Name in mehreren Zeugenaussagen auf. »Sicherlich nicht das gravierendste, aber wohl in seiner Konstellation ungeheuerlichste Beispiel dieser Art ist für mich der ehemalige Oberscharführer Knittel. Es gibt kaum einen Kommandantur- oder Standortbefehl in den Gerichtsakten, in dem nicht sein Name auftaucht. Er war es, der dafür sorgte, dass die SS-Mannschaften, soweit das überhaupt noch möglich war, immer noch weiter verhetzt wurden gegen ihre Opfer. Und dieser Mann setzt heute seine segensreiche Tätigkeit fort, indem er als Regierungsschulrat in Baden-Württemberg für die Erziehung eines Teils der deutschen Jugend arbeitet«, sagte die damalige Staatsanwaltschaft in einem Ton-Mitschnitt, der auf www.auschwitz-prozess.de frei zugänglich ist. Die Ermittlungen gegen Knittel wurden zwar eingestellt, allerdings wurde er 1962 in die Badische Landesbibliothek strafversetzt, wo er bis 1975 Dienst tat. Kurt Knittel starb 1998 in Karlsruhe.
- Wie rechtfertigte Knittel seine Tätigkeit bei der SS nach dem Krieg?
Vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe klagte Knittel gegen seine Versetzung und um seinen Titel und die Pension als Regierungsschulrat. Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger (CDU) argumentierte, dass Knittel sich seine Beförderung unter »arglistiger Täuschung« erschlichen habe, indem er seine SS-Karriere verschwieg, berichtet der Spiegel im Jahr 1966. »Ich habe niemand arglistig getäuscht. Man geheimnist heute in meine Vorträge Dinge hinein, die gar nicht drin waren«, zitiert der Spiegel Knittels Verteidigung. Als ihm im Prozess vorgeworfen wird, er habe die Moral der SS-Mörder »aufgemöbelt«, antwortet er: »Glaubt im Ernst jemand, dass sich SS-Majore von einem Feldwebel aufmöbeln ließen?« Auch sein Vortrag über den »Nationalsozialismus in seiner Stellung zum deutschen und europäischen Geistesleben« sei »harmloser Natur« gewesen, eher ein »geschichtlicher Abriss«. Von seinen Vorträgen behauptet Knittel: »Es war kein einziges hetzerisches Thema dabei. Die Vorträge machten nur ein Fünfzehntel meiner Tätigkeit aus.« (GEA)