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Lieferdienste legen in der Landeshauptstadt einen Zahn zu

Den Gang zum Supermarkt scheinen sich immer mehr Stuttgarter zu sparen. Der Service hat seinen Preis.

Durch die Straßen zischen alle paar Minuten Mitarbeiter von Lieferdiensten.  FOTO: HAASIS
Durch die Straßen zischen alle paar Minuten Mitarbeiter von Lieferdiensten. FOTO: HAASIS
Durch die Straßen zischen alle paar Minuten Mitarbeiter von Lieferdiensten. FOTO: HAASIS

STUTTGART. In weniger als sieben Minuten steht die Einkaufstüte gefüllt auf dem Küchentisch. Dabei ist es vom Supermarkt bis zur Wohnung fast ein Kilometer. In der Tasche steckt immerhin ein Dutzend verschiedener Waren. »Kein Stress«, sagt der Lieferant, zeigt auf sein Fahrrad und ergänzt: »Elektro!« Dann muss er schnell weiter. Werktags von 17 Uhr an herrscht im Stuttgarter Westen eine neue Art von Rushhour, seit Fahrradkuriere nicht mehr nur Pizza und Burger, sondern auch Lebensmittel liefern. Doch der Service hat seinen Preis, wie ein Vergleich im Supermarkt zeigt.

Gorillas und Flink scheinen in Stuttgart auf Expansionskurs zu sein – an ihrer gestiegenen Straßenpräsenz gemessen. Die Firmen selbst geben dazu keine Auskunft. Am Lager der Gorillas in der Gutenbergstraße herrscht reger Betrieb. Dort werden die per Smartphone-App eingereichten Einkaufszettel der Kunden in Papiertüten verpackt.

Kuriere auf Expansionskurs

»Es sind zu viele Bestellungen«, stöhnt einer der Fahrer beim Losradeln. Das nach den Affen benannte Berliner Start-up ist seit dem Frühjahr in Stuttgart unterwegs, die Kuriere nutzen Fahrräder mit dicken, kleinen Reifen, die fast wie Mofas aussehen, tragen schwarze Helme und auch schwarze Kleidung. Im Mai kam noch der Lebensmittellieferdienst Flink dazu, dessen Mitarbeiter an einem großen pink-blauen Rucksack zu erkennen sind.

»Am Anfang war wenig los«, erzählt einer der Gorillas-Riders bei einer kurzen Pause am Feuersee, mittlerweile würden mehr als 600 Bestellungen am Tag eingehen. Nach dem Start im Westen ist Ende Juli die Eröffnung eines zweiten Lagers im Süden auch schon vollzogen worden. Bislang liefert das Unternehmen in West, Süd und Teilen von Mitte aus. Per Stellenanzeige werden für Stuttgart weitere Radfahrer gesucht, die Bezahlung liegt bei 10,50 Euro die Stunde.

Immer wieder auflodernde Arbeitskämpfe begleiten den Expansionskurs des Start-ups, die Hackergruppe Zerforschung hat außerdem Datenlecks aufgedeckt. Flink steht dagegen weniger in den Schlagzeilen. »Die umfassende Berücksichtigung von sozialen und arbeitsrechtlichen Standards unterscheidet uns von einigen unserer Wettbewerber«, teilt der Firmensprecher Simon Birkenfeld mit. Über aktuelle Zahlen und die Entwicklung des Geschäfts in Stuttgart gibt er keine Auskunft – »einige Kunden bestellen bereits jeden Tag bei uns«, erklärt er nur. Das Liefergebiet umfasst ebenfalls Teile von West, Süd und Mitte.

Hunderte von Millionen wurden in die Firmengründungen investiert. Das Geschäftsmodell wird kritisch gesehen, weil die Kosten zu hoch sind, der Aufwand zu groß ist, um viel Gewinn machen zu können. Der von den Discountern geprägte Lebensmittelhandel ist eine harte Branche. »Warum selbst einkaufen gehen, wenn man es sich bringen lassen kann?«, fragt der Gorillas-Radler, der in weniger als sieben Minuten am Ziel war, und bringt damit das Geschäftsmodell auf den Punkt. Pro Lieferung wird eine Pauschale von gerade mal 1,80 Euro verlangt.

Ein Vergleich mit Waren eines stationären Lebensmitteleinzelhändlers zeigt allerdings auch, dass der Service versteckte Kosten hat. Die Behauptung »Über 1 000 Produkte zu Supermarktpreisen« mag stimmen, trifft aber nicht auf alle Waren des Sortiments zu. Bei den Gorillas kostet eine Flasche Cola 99 Cent, im Rewe am Vogelsang sind es 20 Cent weniger, ein Apfel 69 Cent im Gegensatz zu 57 Cent. Ein Kilo Zwiebeln ist 30 Cent teurer, 15 Gramm frischer Koriander 40 Cent, das vegane Schnitzel 60 Cent, beim Käseaufschnitt namens Fol Epie sind es 80 Cent, fertige Maultaschen in einer kleineren Packung 30 Cent mehr. Dafür haben Ritter Sport, Nutella und Dosentomaten den gleichen Preis, eine Flasche Tannenzäpfle und Wodka sind sogar günstiger. Der Kundenkreis scheint zahlungsfähig, jung und hip zu sein. Das zeigt die Sortierung der Waren in der App in Kategorien wie Superfood & Proteine, Barbecue, Frühstück und Vegan.

Auch Rewe baut online aus

Obwohl die Lieferdienste seit Frühling einen Zahn zugelegt haben, ist auf den Straßen im Westen kein Chaos ausgebrochen. Weder bei der Polizei noch beim Ordnungsamt gingen Beschwerden ein. Rewe behauptet ebenfalls, die Invasion der Kuriere ohne Blessuren zu überstehen. Das Feld überlässt der Händler den Start-ups jedoch nicht: In Stuttgart werde voraussichtlich im September ein neues Lager für Online-Bestellungen eröffnet, um das Angebot »in der Region deutlich auszubauen«, teilt Firmensprecher Thomas Bonrath mit. Er weist auf Auszeichnungen wie »Bester Online-Supermarkt«, gute Arbeitsbedingungen und geschulte Mitarbeiter hin. Außerdem lässt sich bei Rewe auch online richtig einkaufen: Das Sortiment ist mit bis zu 25 000 Produkten um ein Vielfaches größer als bei den Fahrradlieferdiensten. (GEA)