STUTTGART. Man merkt Christian Seidel an, wie aufgekratzt er momentan wegen der Ergebnisse ist. Noch ist die Studie nicht veröffentlicht, aber der Forscher von der Technischen Universität Braunschweig gibt gerne Einblicke in das, was sie herausgefunden haben – und das ist auch für Stuttgart und sein Heizungsproblem interessant.
Sie haben für 80 Großstädte in Deutschland – darunter Stuttgart – das Aquathermie-Potenzial angrenzender Gewässer untersucht. Das Ergebnis habe sie selbst erstaunt, sagt Seidel. Theoretisch könnten die Fließgewässer 94 Prozent der Wärme im Niedertemperaturbereich decken. Bei einer Temperaturabsenkung in den Gewässern von maximal zwei Grad Celsius und zu etwa einem Fünftel des Preises im Vergleich zu Geothermie, zeigen ihre Zahlen. »Selbst kleinste Fließgewässer haben großes Potenzial«, sagt er. Für Ballungszentren, die viel Wärme brauchen, aber wenig freie Fläche für erneuerbare Quellen haben, eine durchaus relevante Information.
Aquathermie nicht auf dem Schirm
Ausgangspunkt für die Studie sei eine Anfrage der Stadtwerke Braunschweig gewesen, erklärt Seidel. Sie wollten wissen, wie viel Wärme in den Gewässern vor Ort schlummert. »Da kamen diese großen Zahlen raus«, sagt er. »Die Aquathermie hatte man nicht auf dem Schirm.« Daher beschlossen die Braunschweiger Wissenschaftler, die Untersuchung größer anzulegen. Auch Stuttgart wurde beleuchtet.
Nach den Berechnungen der TU Braunschweig könnte der Neckar 56 Prozent der Raumwärme in Stuttgart decken; pickt man nur die Haushalte heraus, sogar 82 Prozent. Wobei die Wissenschaftler des Instituts für Statik und Dynamik Faktoren wie die Topografie außen vor gelassen haben. Wie Neckarwärme beispielsweise auf die Filderebene gelangen soll, wird nicht beantwortet. Allerdings gibt es durchaus auch einige Bereiche im Tal, für die die Ende 2023 beschlossene kommunale Wärmeplanung keine Wärmenetze vorsieht.
Im Rahmen der Wärmeplanung habe man freilich auch den Neckar als Wärmequelle untersucht. »Die Nutzung ist in der kommunalen Wärmeplanung vorgesehen«, teilt Oliver Hillinger, ein Sprecher der Stadt, für das Amt für Umweltschutz mit. Allerdings nicht in der Größenordnung, die die Braunschweiger Studie ausrechnet.
Ein Gutachten, das alle noch nicht von der Fernwärme versorgten Gebiete entlang des Neckars untersucht habe, sei zu dem Ergebnis gekommen: »Die Nutzung der Flusswasserwärme eignet sich aufgrund der Komplexität nur für sehr große Bau- oder Quartiersprojekte.« Breche man die Theorie auf die tatsächlich mögliche Praxis herunter, »ergibt sich ein theoretisches Potenzial für Stuttgart von 16 Prozent des Wärmeverbrauchs, der durch Neckarwärme gedeckt werden könnte«, sagt der Sprecher der Stadt. An den Ergebnissen der Studie aus Braunschweig zeigt sich die Stadt gleichwohl interessiert. »Wir haben die TU Braunschweig angeschrieben, damit wir die Studie übermittelt bekommen.«
Was darin auch zu lesen ist: Ideale Standorte für Großwärmepumpen, die Flusswärme in die Stadt lenken, seien Wasserkraftwerke. Erstens sei die Infrastruktur da. »In dieser Doppelfunktion ergeben sich vollkommen neue Nutzungsperspektiven«, sagt Christian Seidel. Zweitens fließe dort quasi jeder Tropfen durch. »Da kommen wir einmal ans gesamte Flusswasser ran«, sagt er. In Stuttgart würde vermutlich eine Entnahmestelle ausreichen, so Seidel.
In Stuttgart gibt es vier Wasserkraftwerke: in Hedelfingen, Untertürkheim, Bad Cannstatt und Hofen. Betreiber oder Hauptaktionärin ist die EnBW. Von der Braunschweiger Studie wisse man, sagt Regina König, Senior Managerin Kommunikation beim Energiekonzern. »Wir haben uns aber mit den Details noch nicht befasst.«
Abkühlung wäre gut für Flüsse
Bei Aquathermie seien grundsätzlich technische, genehmigungsrechtliche sowie wirtschaftliche Punkte zu beachten. Und ob sich Wasserkraftwerke in der Praxis als Entnahmestellen eignen, versieht König mit einem Fragezeichen. »Wasserkraftwerke und Wärmepumpen benötigen jeweils gewisse Durchflussgeschwindigkeiten, die nicht zwingend identisch sind«, erklärt sie. Die vor Kurzem in Betrieb genommene Großwärmepumpe in Stuttgart-Münster zeige zudem, dass es ausreichend Platz brauche.
Um die gigantischen Wärmepotenziale zu heben, muss nun aus Sicht der Braunschweiger Wissenschaftler schleunigst an kombinierten Wasser-Wärme-Kraftwerken geforscht werden. Die Aquathermie hat nach den Erkenntnissen der Studienautoren übrigens einen wichtigen positiven Nebeneffekt für die Natur. Die Forscher haben 21 Fließgewässer auf ihre Temperaturveränderung hin untersucht. Seit 1950 seien die Gewässer im Schnitt um drei bis vier Grad wärmer geworden. Würde den Flüssen und Bächen Wärme fürs Heizen entzogen, sagt Seidel, wäre das ökologisch sogar sinnvoll. (GEA)