STUTTGART. Die Natur ist eine schwäbische Hausfrau. Sie arbeitet mit dem, was sie hat, und macht das Beste draus. Und wenn sie eines reichlich hat, dann sind es Fasern. Fasern gibt es überall, bei Tieren und bei Pflanzen, im Norden und im Süden. Je nachdem, wie lang, wie dicht gepackt und wie gerichtet die Fasern sind, hat das Gebilde andere Eigenschaften. Das eine Mal ist es hart und steif wie bei Insektenpanzern, das andere Mal ist es weich und biegsam wie bei Baumwolle. Die Natur ist eine versierte Baumeisterin. Von ihr kann der Mensch viel lernen: zum Beispiel die Verwendung lokaler Baustoffe, den effizienten Einsatz von Ressourcen und die verschiedene Kombination der gleichen Materialien.
In die Schule der Natur ist auch Jan Knippers gegangen. Er ist Bauingenieur, Professor an der Universität Stuttgart und sagt: »Die Natur inspiriert mich.« Zum Texoversum etwa. Das Gebäude steht auf dem Campus der Hochschule Reutlingen und beherbergt die Textilwissenschaften. Der Neubau aus dem Jahr 2023 im Auftrag des Arbeitgeberverbands Südwesttextil ist verkleidet mit einer Fassade aus Glas- und Kohlenstofffasern. Das Gewebe gleicht einem löchrigen Spinnennetz, gibt den Blick auf die Schwäbische Alb frei und vermittelt dem Besucher das Gefühl, Teil eines Naturraums zu sein.
Was Knippers macht, nennt sich »bionisches Bauen«. »Früher versuchte man einen direkten Transfer aus der Natur in die Baukunst«, berichtet der Hochschullehrer. Das habe aber nicht funktioniert, dafür unterschieden sich beide Bereiche zu sehr. »Jetzt lässt man sich inspirieren von den Prinzipien der Natur.« Mit vielversprechenden Ergebnissen: »Die Bautechnik schreibt einen engen Kanon vor«, stellt Knippers fest. »Die Natur aber zeigt, dass Architektur und Ingenieurwesen mehr Möglichkeiten haben.«
Als Vorbild dient Knippers nicht nur die Naturfaser, sondern auch der Fichtenzapfen. Seine Schuppen verändern ihre Form in Abhängigkeit von der Umgebungsfeuchte. Das ist neu. »In der Technik funktioniert Bewegung über Gelenke zwischen starren Elementen«, erklärt Knippers. »In der Natur funktioniert Bewegung über elastische Verformung.« Diesem Prinzip folgt der Holzturm bei der aktuellen Landesgartenschau in Wangen im Allgäu. Die Gesamtkonstruktion ist gedreht, die einzelnen Latten sind gekrümmt. Das Holz verbiegt sich, wenn es trocknet und Feuchtigkeit verliert.
Ein weiteres Modell ist der Seeigel. Seine Schale setzt sich zusammen aus einzelnen Platten. Diesem Muster folgt Knippers Pavillon auf der Bundesgartenschau 2019 in Heilbronn. Die Konstruktion besteht aus einer Vielzahl von Holzplatten. Der Vorteil: »Die Platten werden in der Werkhalle vorgefertigt und auf der Baustelle zusammengesetzt«, erklärt der Professor. »Dadurch wird die Herstellung vereinfacht und beschleunigt.« Ein zusätzlicher Bonus der Seeigel-Schale: Sie ist innen hohl. Das spart Material und Gewicht. Auch diesen Kniff kopieren Knippers Holzkassetten.
Alle Konstruktionen von Knippers verwenden Naturmaterialien (meist Fasern und Holz), die in der Region gewachsen und von lokalen Betrieben verarbeitet sind. Der Materialeinsatz ist gering, die Konstruktionen sind leicht. Sie bestehen aus Einzelteilen, die sich auseinandernehmen und an anderer Stelle weiterverwerten lassen. Damit leisten Knippers Konstruktionen einen Beitrag zum Umweltschutz. Nötig ist die Suche nach nachhaltigen Baustoffen und Bauweisen, weil der Bausektor als einer der Haupttreiber des Klimawandels gilt. Große Mengen Kohlenstoffdioxid entstehen etwa bei der Herstellung von Beton und Zement sowie beim Transport des Bauguts.
»Wir sehen uns als Avantgarde. Wir zeigen, was möglich ist«
Zur Umweltbelastung wurde die Baubranche im 20. Jahrhundert. Bevölkerung, Städte und Wohnraum-Bedarf wuchsen. Es wurde industriell und seriell gebaut: im Westen Hochhäuser, im Osten Wohnplatten. Alle Gebäude sahen gleich aus: Sie bestanden aus Beton, Stahl und Glas. Material war billig, Arbeitskraft war teuer. Darum wurde einfach und schnell gebaut – unter großem Verbrauch der Ressourcen und starker Verschmutzung der Umwelt. »Wegen der Klimakrise geht das heute nicht mehr«, sagt Knippers.
Darum will der Bauingenieur das industrielle Bauen überwinden. Dafür setzt er auf das bionische Bauen. Denn es schont nicht nur die Umwelt, es schafft auch Unikate. Jedes Bauwerk ist ein Einzelstück und besteht aus zig Einzelteilen. »Wir entwerfen ein Grundmodell, das individuell an Ort und Nutzer angepasst werden kann«, erklärt Knippers. Dieser Herausforderung begegnet er mit dem digitalen Bauen. »Das digitale Bauen ermöglicht mehr Komplexität als das industrielle Bauen, und zwar ohne viel Mehraufwand«, sagt Knippers. Und kooperiert mit Achim Menges, ebenfalls Professor an der Universität Stuttgart. Menges’ Institut ist darauf spezialisiert, Bauwerke mit Computern zu planen und mit Robotern vorzufertigen.
Bislang hat das Team Knippers/Menges vor allem Demonstrationsobjekte für Ausstellungen geschaffen. Sie treten weltweit auf, aktuell auf der Landesgartenschau 2024 in Wangen und davor auf der Bundesgartenschau 2019 in Heilbronn. Als permanentes öffentliches Gebäude sticht das Texoversum in Reutlingen aus ihrem Portfolio hervor. Ein Laborgebäude auf dem Campus der Universität Vaihingen soll 2026 folgen. »Wir sehen uns als Avantgarde«, sagt Knippers. »Wir zeigen, was möglich ist.« (GEA)