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Wie wird der Ukraine-Krieg enden?

Am Freitag ist es ein Jahr her, seit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Die Prognossen für ein mögliches Ende fallen unterschiedlich aus - doch in einem sind sich die Experten einig.

Bachmut
Ein ukrainischer Soldat geht zu seiner Position an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut. Die Stadt ist heftig umkämpft. Foto: Libkos
Ein ukrainischer Soldat geht zu seiner Position an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut. Die Stadt ist heftig umkämpft.
Foto: Libkos

Einmal saßen sie sich schon an einem Tisch gegenüber, der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. 2019 hatte der französische Staatschef Emmanuel Macron sie gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Paris eingeladen. Die Atmosphäre war angespannt.

In einem Interview für die vor wenigen Tagen ausgestrahlte BBC-Dokumentation »Putin vs the West« berichtete Selenskyj, er habe Putin damals beschworen, ihm zu vertrauen. »Ich lüge nie«, habe er ihm versichert. Putin habe darauf irritiert reagiert und entgegnet: »Ich glaube nicht daran, dass man nie lügen kann.«

Wie wird der Ukraine-Krieg enden: Mit einem eindeutigen Sieg einer Seite auf dem Schlachtfeld? Nach endlosen Gesprächen am Verhandlungstisch? Oder gar, wie manche befürchten, in der Apokalypse eines Atomkriegs? Ein Forscher, der die Beilegung von Konflikten seit Jahrzehnten erforscht, ist der Niederländer Hein Goemans, Professor für internationale Politik an der University of Rochester in den USA. Seine Einschätzung: Falls die Ukraine vom Westen weiterhin mit Panzer-Nachschub versorgt wird und dazu auch noch Kampfflugzeuge bekommt, ist es möglich, dass die ukrainischen Streitkräfte große Teile der von Russland annektierten Gebiete zurückerobern. »Noch nicht dieses Jahr, aber nächstes Jahr vielleicht«, sagt Goemans der Deutschen Presse-Agentur.

Irgendwo in der Nähe der russischen Grenze werde der Konflikt dann einfrieren. »Zuende wäre der Krieg dann immer noch nicht, aber es gäbe keine großen Feldschlachten mehr, es würde ab und zu hin- und hergeschossen.« Friedensverhandlungen hält Goemans erst dann für realistisch, wenn Russland einen anderen Präsidenten als Putin hat.

Auch Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main, kann sich vorstellen, dass der Konflikt mit der Zeit festläuft und eine nicht formalisierte Grenze entsteht. »Das kennen wir aus der Geschichte: Denken Sie an Nord- und Südkorea, aber auch an Ost- und Westdeutschland. Alles keine formalen Friedensschlüsse, keine akzeptierten Grenzen, sondern offen bleibende Konflikte, die ausgehalten werden müssen und bei denen man auf lange Sicht auf eine Einigung hofft. Das kann aber Jahrzehnte dauern.« 

An Friedensverhandlungen glaubt Deitelhoff nicht, weil sich in ihren Augen sowohl Putin als auch Selenskyj jeden Verhandlungsspielraum genommen haben: Putin, indem er die eroberten Territorien in der Ostukraine zu russischem Staatsgebiet erklärt hat, und Selenskyj, indem er per Dekret festgelegt hat, nicht mit Putin zu verhandeln.

Goemans: Minimalforderungen bisher unvereinbar

Um den Ukraine-Krieg wirklich zu beenden, müsste nach Einschätzung von Goemans mindestens eine der beiden Kriegsparteien ihre Minimalforderungen ändern. Bisher sind die jeweiligen Minimalforderungen unvereinbar: Russland hat sich die besetzten Gebiete einverleibt und will sie auf jeden Fall behalten, die Ukraine will sie unbedingt zurück. Goemans ist davon überzeugt, dass Putin die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, dass der Westen seine Hilfe für die Ukraine zurückfahren wird, weil die Belastungen auf Dauer zu groß sind. Aber selbst wenn Putin diese Hoffnung nicht mehr hätte, würde er den Krieg vermutlich fortsetzen, weil er glaube, sich eine Niederlage nicht leisten zu können.

Genauso schätzt es Deitelhoff ein: »Putin hat Geister geweckt, die er jetzt kaum noch in den Griff bekommt. Noch schlimmere Hardliner als er selbst nehmen ihm den Verhandlungsspielraum, weil sie immer noch härtere Schläge wie den Einsatz taktischer Atomwaffen fordern.« Die Gefahr einer Eskalation mit solchen »kleinen Atomwaffen« oder mit chemischen und biologischen Waffen bestehe vor allem, wenn sich Putin durch ukrainische Erfolge auf russischem Territorium in die Enge getrieben sehen würde.

Masala: Atomare Eskalation ist sehr unwahrscheinlich

Der Militärexperte Carlo Masala hingegen hält eine atomare Eskalation für sehr unwahrscheinlich. Würde Putin eine »kleine Atombombe« zünden, würde dies die Ukrainer mit Sicherheit nicht vom Weiterkämpfen abhalten, argumentiert Masala im dpa-Interview. Gleichzeitig würde Putin massive Gegenschläge des Westens provozieren - und hätte damit unterm Strich nichts gewonnen, sondern seine Lage noch verschlechtert.

Masala glaubt auch nicht, dass Selenskyj und Putin keinen Spielraum für Verhandlungen haben: »Militärisch lässt sich der Konflikt nicht in dem Sinne lösen, dass die ukrainische Armee den letzten russischen Soldaten von ukrainischem Territorium vertreibt. Das wird nicht funktionieren. Also von daher: Wenn es die Möglichkeit für Verhandlungen ohne russische Vorbedingungen gibt, ist Selenskyj derjenige, der auch am Verhandlungstisch sitzen wird.« Das gleiche gelte für Putin, sobald er zu der Überzeugung gelange, dass ihm eine Fortsetzung des Krieges mehr schade als nütze.

Die Frage, wie sich Putin verhalten wird, ist die große »Black Box« dieses Krieges - der Bereich, der sich der Analyse weitgehend entzieht, weil niemand in den Kopf des Kreml-Herrn hineinschauen kann. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, glaubt jedoch ebenso wie Masala: »Putin entscheidet selbst, ob er Spielraum für Verhandlungen hat oder nicht. Er kann derzeit noch verschiedene Kriegsausgänge als politische Figur überleben.«

Sasse: Putin könnte in Verhandlungen Zugeständnisse machen

Letztlich werde Putin das tun, wovon er sich am ehesten eine Erhaltung seines Machtsystems verspreche, meint Sasse. Das könne eine Eskalationsstrategie sein, um den Westen doch noch abzuschrecken, oder auch das Umschwenken auf Verhandlungen. »Es ist denkbar, dass russische Eliten irgendwann Druck auf ihn ausüben, den Krieg zu beenden, weil die Kosten zu hoch werden.« Putin könne in Verhandlungen durchaus auch Zugeständnisse an die Ukraine machen, indem er zum Beispiel annektierte Gebiete wieder abtrete, ohne damit seinen Sturz zu riskieren.

Für die russische Staatspropaganda wäre das nach Sasses Einschätzung kein unüberwindliches Hindernis. »Man könnte immer behaupten, dass man zum Beispiel das Wichtigste erreicht hat oder alles nur vorläufig ist. Wir dürfen nicht den Fehler machen zu glauben, dass der Großteil der Bevölkerung und der politischen Eliten Putin daran misst, ob er Saporischschja und Cherson wirklich voll ins Land integrieren kann. Viel wichtiger für die Bevölkerung wäre das Signal, dass man sich nicht mehr sorgen muss, zum Militärdienst an der Front eingezogen zu werden.« Und davon abgesehen: Putin müsse sowieso nur auf die Eliten Rücksicht nehmen. »Von der Bevölkerung geht für ihn momentan keine Gefahr aus.«

So unterschiedlich die Prognosen der Expertinnen und Experten im Einzelnen auch ausfallen, in einem sind sie sich einig: Der Krieg wird noch sehr lange dauern und deshalb auch Deutschland noch sehr lange und sehr direkt betreffen. »Es ist ein großer europäischer Krieg«, sagt Hein Goemans. »Ein Krieg, von dem wir dachten, dass wir ihn in dieser Form nie mehr erleben würden.«

© dpa-infocom, dpa:230221-99-677753/3