Horst Seehofer ist weg, ganz weit weg. Für jemanden, der mehr als vier Jahrzehnte lang Politik an vorderster Front gemacht hat, immer im Feuer, immer im Rampenlicht, hat er den Ausstieg in erstaunlicher Weise geschafft. Kaum hatte er sein letztes Spitzenamt als Bundesinnenminister Ende 2021 abgegeben, war er auch schon von der Bildfläche verschwunden. Ein, zwei etwas größere Auftritte absolvierte er seither, zuletzt im Europawahlkampf für den CSU-Spitzenkandidaten Manfred Weber, mehr nicht. Im Gespräch gewinnt man den Eindruck: Der ehemalige Spitzenpolitiker Seehofer ist heute ein äußerst zufriedener Polit-Rentner. Alte Weggefährten bestätigen dies.
Phantomschmerzen, wie manche andere vor ihm? Fehlanzeige. »Das war mein Vorsatz - und das ist mir auch gelungen«, sagt er. Und was Seehofer noch einhält (und was viele ihm nicht zugetraut hätten): Dass er, der einst mit wenigen Worten Koalitionen ins Wanken bringen oder seine ganze Partei verunsichern konnte, nun seit zweieinhalb Jahren schweigt, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen. Heute feiert er seinen 75. Geburtstag.
Seehofer genießt sein neues, ruhigeres Leben fernab von München und Berlin. »Das ist ein unheimlicher Befreiungsschlag: Keinen Verantwortungsdruck mehr haben, in keine festen Pläne mehr eingebunden sein. Ich mache nur noch Wohlfühltermine und was mir Spaß macht«, sagt er. »Ich setze mich hier vor Ort für die Hochschulen, die Kirche, Sportvereine ein, helfe mit Rat und manchmal auch mit Tat. Außerdem bin ich viel in der Natur unterwegs, gehe zu vielen Stammtischen und Gesprächskreisen mit Freunden. Mir wird nicht langweilig.« Und Seehofer liest viel, fährt Fahrrad, E-Bike, arbeitet nebenbei an der Digitalisierung seiner Modelleisenbahn. Die Nachrichten scannt er täglich, aber nur wenige Artikel liest er komplett.
»Ich gehe in keine Talkshow«
Auf CSU-Parteitagen oder bei Vorstandssitzungen hat man Seehofer als Pensionär ohnehin nicht mehr gesehen. »Ich halte mich mit öffentlichen Äußerungen komplett zurück, bis auf vielleicht ein Interview pro Jahr. Ich gehe auch in keine Talkshow«, sagt er und betont: »Vor allem die Grundentscheidung, die Politik meines Nachfolgers nicht zu bewerten, war richtig.« Wobei man sagen muss: Wie schlecht es um das Verhältnis Seehofers zum aktuellen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Markus Söder bestellt ist, ist allgemein bekannt. Dazu braucht es keine neuen Interviews, von keinem der beiden.
Söder gratuliert Seehofer - natürlich ohne all dies zu erwähnen - vorab: Bayern habe ihm viel zu verdanken. »Er hat Krisen gemanagt in schwierigen Zeiten, aktiv Zukunft gestaltet und den Menschen als Landesvater Zuversicht gegeben.« Seehofer habe sich als Vollblutpolitiker große Verdienste erworben und könne auf ein eindrucksvolles Lebenswerk zurückblicken.
Interessant ist indes schon, was Seehofer in einem aktuellen Interview der »Augsburger Allgemeinen« über die Lage von CDU und CSU sagt: dass er das Potenzial für die Union insgesamt bei 30 bis 40 Prozent sieht, und für die CSU bei »weit über 40 Prozent«. »Wir erreichen derzeit aber nur den unteren Rand, bestenfalls.« In den vergangenen Jahren sei eigentlich überhaupt kein Wahlergebnis mehr aus seiner Zeit erreicht worden. »Ich schildere nur Tatsachen, ohne Vorwurf«, schiebt Seehofer hinterher. Und wen hält er für den richtigen Mann für die Unions-Kanzlerkandidatur, CDU-Chef Friedrich Merz? »Ja«, sagt Seehofer. »Er macht seine Arbeit als Partei- und Fraktionsvorsitzender sehr gut. Er hat die CDU geordnet.«
Mehr als vier Jahrzehnte Politik
Seehofers Lebensleistung wird indes nicht einmal von den seinen politischen Gegnern und Kontrahenten ernsthaft in Zweifel gezogen. Einen Großteil seines Lebens, insgesamt mehr als vier Jahrzehnte, hat er in den Dienst der Politik gestellt. Insgesamt 28 Jahre saß er für die CSU im Bundestag. Er brachte es zum Bundesminister, zum Parteichef und bayerischen Ministerpräsidenten. Dabei hat er Höhen und Tiefen erlebt wie kaum ein anderer, persönlich und politisch. 2002 erlitt er eine Herzmuskelentzündung, die ihn fast das Leben kostete.
Und auch politisch durchlebte Seehofer ein Auf und Ab: Seine gesamte Karriere stand auf dem Spiel, als er einst im Streit über die Gesundheitspolitik als Bundestags-Fraktionsvize zurücktreten musste. Jahre später unterlag er im Kampf um den CSU-Vorsitz seinem Rivalen Erwin Huber - bevor er nach der Landtagswahl-Pleite 2008 doch noch zum Zuge kam.
Als bayerischer Ministerpräsident regierte Seehofer einige Jahre lang unangreifbar - aber nicht unumstritten: Seine Kritiker warfen ihm einen autokratischen Regierungsstil vor. Und dass er ein gnadenloser Populist sei und seinen Kurs ändere wie ein Fähnchen im Wind.
»Soziales Gewissen« der CSU
Ein historisch bleibendes Verdienst Seehofers ist eine Reise, die ihn Ende 2010 nach Prag führte. Seehofer war es, der nach langem Streit um die Vertreibung der Sudetendeutschen eine politische Eiszeit beendete: Mit dem ersten Besuch eines bayerischen Regierungschefs in Prag schlug er damals ein ganz neues Kapitel in den Beziehungen zu Tschechien auf. Und was Seehofer noch auszeichnete: ein sozialer Kompass, der manchen Politikern heute zu fehlen scheint. »Soziales Gewissen« der CSU wurde er früher genannt, mit einem Blick für die »kleinen Leute« - auch er selbst hatte sich aus ärmeren Verhältnissen hochgearbeitet.
»Das schönste Amt war tatsächlich das Ministerpräsidenten-Amt, wegen des Kontakts zu so vielen Menschen überall im Land«, sagt Seehofer heute. »Manche meinen ja sogar, Sie sind der Königsnachfolger, daran hat sich bis heute nichts geändert. Und die schönste Erfahrung war, dass wir 2013 die absolute Mehrheit im Landtag noch einmal zurückerobern konnten.«
Siege und bittere Niederlagen
Doch auf Höhenflüge wie diesen folgten auch in Bayern schmerzliche Niederlagen für Seehofer. Sein Karriereende als bayerischer Ministerpräsident und als CSU-Chef zögerte er hinaus, ungeachtet immer neuer Wahlpleiten. Bis der wachsende CSU-interne Druck ihn schließlich zum Ämterverzicht auf Raten zwang. Es war eine der letzten bitteren Niederlagen Seehofers: Er musste damals ausgerechnet seinem langjährigen Rivalen Söder Platz machen.
Doch Seehofer machte weiter - in Berlin. Mit damals 68 Jahren wurde Seehofer Anfang 2018 Bundesinnenminister, mit Zuständigkeiten auch für Bauen und Heimat. Unter Kanzlerin Angela Merkel, mit der er sich zuvor jahrelang über die Flüchtlingspolitik gestritten hatte.
Seehofer aber blieb sich treu: Auch im neuen Amt brachte er ab und an die halbe Republik gegen sich auf. Einmal drohte er Merkel spektakulär mit Rücktritt, wieder ging es um die Asyl- und Flüchtlingspolitik - um dann am Ende doch klein beizugeben. Spektakuläre Volten stellte Seehofer, im Brustton der Überzeugung, im Übrigen stets als völlig stringent dar.
Eigene Fehler sieht er rückblickend nur einzelne. »Meine erste Reform als Bundesgesundheitsminister würde ich heute anders gestalten, flexibler, nicht mehr so hart«, sagt er. Kritik, er habe als bayerischer Ministerpräsident den Bau von Stromtrassen oder Windrädern gebremst, lässt er nicht gelten. »Ich stehe zu dem, was wir entschieden haben, und zwar zu 100 Prozent«, sagt er. »Wir haben dadurch viel Unfrieden vermieden.«
Was wünscht er sich für die Zukunft? »Politisch hätte ich einen Wunsch: dass noch deutlich mehr getan wird für Kinder aus benachteiligten Familien – damit diese auch eine vernünftige Ausbildung bekommen. Bildung ist nun einmal das Tor zum Leben«, sagt er. »Und persönlich habe ich eigentlich nur einen Wunsch: Gesundheit für meine Umgebung und für mich.«
© dpa-infocom, dpa:240704-930-163275/1