Von satten 40,8 Prozent der Wählerstimmen können die konservativen Parteien der meisten EU-Länder nur träumen. Die CDU etwa erzielte bei der Bundestagswahl 2021 nur 24,1 Prozent, auf EU-Ebene holte die konservative EVP 2019 für das EU-Parlament 24,2 Prozent. Dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis hingegen ist dieser Erfolg bei den Parlamentswahlen am Sonntag in Griechenland gelungen. Und doch wird es vorerst keine Regierung geben - was ist da passiert?
Wieso kann Mitsotakis nicht wieder alleine regieren?
Die Nea Dimokratia hat diesmal sogar mehr Stimmen geholt als 2019 (39,9 Prozent). Dass sie nicht wieder im Alleingang regieren kann, liegt an einer Art politischer Bombe, die von der Linksregierung der Partei Syriza (2015 bis 2019) hinterlassen wurde. Früher gab es im griechischen Wahlrecht eine Besonderheit: Die stärkste Partei erhielt nach der Wahl zusätzlich 50 Sitze im 300-köpfigen Parlament, um die Regierungsbildung zu vereinfachen. Diesen Bonus schaffte Syriza-Chef Alexis Tsipras während seiner Amtszeit ab - mit dem Ziel, bei den nächsten Wahlen den Sieg der Konservativen zu verhindern und stattdessen per Koalition eine Mitte-Links-Regierung zu stellen.
Was ist bei den nun anstehenden Wahlen anders?
Die Regierung von Mitsotakis hat das Wahlgesetz während ihrer Amtszeit erneut geändert. Es greift aber erst ab der nun anstehenden Wahl. Künftig erhält die stärkste Partei mindestens 20 Sitze als Bonus. Schneidet Mitsotakis wieder ähnlich gut ab wie jetzt, kann er mit einer bequemen absoluten Mehrheit regieren.
Was ging für Syriza und Alexis Tsipras schief?
Die Idee einer Koalitionsregierung kam bei den Wählern nicht an, zumal sich die potenziellen Partner vor den Wahlen regelmäßig in den Haaren lagen. Aber das allein erklärt nicht den massiven Einbruch der Linken um 11 Prozentpunkte auf 20 Prozent. Auch das Wahlprogramm schien viele Bürger abzuschrecken: Tsipras versprach mehr Sozialstaat, höhere Renten, die Erhöhung des Mindestlohns und viele andere Ausgaben mehr. Wie all das finanziert werden soll, sagte er aber nicht.
Nur vier Tage vor der Wahl forderte dann ein prominenter Syriza-Politiker im Interview, dass Selbstständige künftig 20 Prozent ihres Jahreseinkommens an Steuern und Abgaben zahlen sollten. Das beträfe in Griechenland jeden Taxifahrer, Gastronom, Kioskbesitzer, Kleinstunternehmer. Es folgte ein Shitstorm in sozialen Medien, der Mann trat ab, aber der Schaden blieb.
Wieso lief es für die Nea Dimokratia so gut?
»Die Griechen haben sich ganz unideologisch für Stabilität und Reformen entschieden« - so lautete in vielen Medien die Analyse. Mitsotakis gilt als Technokrat, dem es gelang, die Bürokratie zu entschlacken und zu digitalisieren. Auch die Wirtschaft kam dank Steuersenkungen und Investitionsanreizen wieder in Schwung. Es entstanden 300 000 neue Arbeitsplätze, die Arbeitslosigkeit sank von 19 auf rund 11 Prozent.
Ein Regierungschef der Herzen ist Mitsotakis nicht unbedingt; auch gab es während seiner Amtszeit einen handfesten Skandal, weil der Geheimdienst Handys von Politikern und Journalisten abhörte. Doch nicht einmal das hinderte viele Griechen daran, erneut das Stabilitätsversprechen der Konservativen zu wählen.
Wieso will Mitsotakis auf keinen Fall koalieren?
Die Konservativen finden, dass sie von den Wählern ein klares Mandat erhalten haben, alleine die Regierung zu stellen. Auch mangelt es politisch gesehen an Partnern. Einzig die sozialdemokratische Pasok wäre in Frage gekommen, aber deren Chef schloss eine Koalition schon vor den Wahlen aus.
Ist jetzt schon alles klar?
Nein. Vor allem für Alexis Tsipras geht es ums politische Überleben. Nach dem Wahldebakel der Syriza gab es bereits erste Aufrufe zu seinem Rücktritt, doch das wäre angesichts der anstehenden Neuwahlen fahrlässig. Holt Tsipras aber wieder ein schlechtes Ergebnis, wird er den Parteivorsitz abgeben müssen.
Auch für die drittplatzierte Pasok geht es um viel: Sie legte von 8,1 auf 11,5 Prozent zu und will nun noch mehr Wählerstimmen von Syriza abgreifen. Auch die Konservativen werden kämpfen, sagen politische Beobachter: Mitsotakis müsse die Wähler motivieren, damit sie nicht denken, die nächste Wahl sei ohnehin gewonnen und man bräuchte gar nicht erst hinzugehen.
Nervt es die Bürger erneut wählen zu müssen?
Nein, sie sehen das gelassen. In erster Linie deshalb, weil sich die Notwendigkeit einer weiteren Wahl schon im Vorfeld abzeichnete. Außerdem sind die Griechinnen und Griechen als Nachfolger der Erfinder der Demokratie selbst überzeugte Demokraten; wählen zu gehen ist für viele Ehrensache. Und sie sind entspannt - bei Wahlen regen sie sich höchstens über das Ergebnis auf. Das Land hat in den vergangenen 15 Jahren Finanz-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise sowie Corona durchlebt, da kommt es auf eine weitere Wahl nicht an.
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