Nordrhein-Westfalen steht am 15. Mai vor einer ungewöhnlichen Landtagswahl: Ein Kurzzeit-Ministerpräsident muss für die CDU den Regierungssessel im bevölkerungsreichsten Bundesland verteidigen.
Nur knapp sieben Monate seit seiner Amtsübernahme vom gescheiterten Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) wird Hendrik Wüst (46) vom ehemaligen NRW-Justizminister und SPD-Bundesvize Thomas Kutschaty (53) herausgefordert. Ausgang offen.
In den vergangenen Monaten haben sich beide Landesparteien in den meisten Wählerumfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit jeweils um die 30 Prozent Zustimmung geliefert. Einige Erhebungen ergeben einen leichten Vorsprung für die CDU, andere für die SPD - keine Partei hat jedoch einen sicheren Vorsprung. Der Bekanntheitsgrad beider Spitzenkandidaten ist nicht überragend.
»Landtagswahlen sind oft Persönlichkeitswahlen«
Dabei seien gerade in Zeiten, wo große Konfliktthemen zwischen CDU und SPD fehlten und für die Bürger schwerer unterscheidbar sei, wofür sie eigentlich stehen, markante Personen besonders wichtig, unterstreicht der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall. »Landtagswahlen sind oft Persönlichkeitswahlen«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
An Koalitionen ist den jüngsten Umfragen zufolge rein rechnerisch vieles möglich: Von der großen Koalition über eine knappe schwarz-grüne Mehrheit, eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen bis hin zur »schwarzen Ampel« mit CDU, FDP und Grünen (»Schwampel«). Was die Zahlen gerade nicht hergeben, ist eine Fortsetzung der CDU/FDP-Koalition in NRW oder eine Neuauflage von Rot-Grün - ein solches Bündnis gab es in NRW bereits vier Mal, zuletzt von 2010 bis 2017 unter der damaligen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD).
Die Spitzenkandidaten von CDU, SPD, Grünen und FDP halten sich alle Optionen offen und schließen nichts kategorisch aus - außer eine Zusammenarbeit mit der AfD. Die liegt wiederum seit ihrem Einzug in das Fünf-Parteien-Parlament 2017 stets stabil über der Fünf-Prozent-Hürde. »Die AfD hat mittlerweile eine Stammwählerschaft etabliert«, stellt Marschall fest.
NRW nicht mehr »Stammland« der Sozialdemokraten
Wegen jahrzehntelanger Vorherrschaft der SPD galt NRW lange als »Stammland« der Sozialdemokraten. Darauf können sie allerdings längst nicht mehr bauen. Immer wieder gelang es der CDU - zuletzt 2005 und erneut 2017 - gemeinsam mit der FDP das Blatt zu wenden. Wähler-Unmut über Schulpolitik und Innere Sicherheit spielten dabei stets eine Rolle. 2017 war das Rennen zwischen Laschet und Kraft ähnlich knapp wie jetzt zwischen Wüst und Kutschaty.
Mitte April dieses Jahres tendierte noch etwa jeder vierte Wahlberechtigte laut einer repräsentativen Erhebung dazu, keine Stimme bei der NRW-Landtagswahl abzugeben oder ließ jedenfalls keine Neigung zu einer Partei erkennen. »Das kann sich noch ändern, wenn der Wahlkampf an Fahrt aufnimmt«, stellt Marschall fest. »Gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen kann Menschen mobilisieren, weil man den Eindruck hat, dass jede Stimme einen Unterschied machen kann«, sagt der Politik-Professor von der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität.
»Schlammschlachten« kosten Vertrauen
Ob die in den letzten Wahlkampfwochen forcierten Scharmützel über Politiker-Affären oder Fehler im Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Geländegewinne brächten, sei hingegen zweifelhaft. »Schlammschlachten zwischen Parteien haben immer ein Opfer und das ist das Vertrauen der Menschen in die Politik«, mahnt Marschall.
Zwar seien solche Kämpfe mangels anderer großer Konfliktlinien verständlich. »Das ist aber heikel, weil dann hängen bleibt, dass es generell ein Problem gibt mit dem ethischen Verhalten von Politikern.« In den vergangenen Wochen war sowohl NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) infolge der »Mallorca-Affäre« über Urlaub und eine Party während des Jahrhunderthochwassers zurückgetreten als auch Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) aus der Ampelregierung.
Kutschaty oder Wüst?
Spekuliert wird, ob Kutschaty auf einen »Scholz-Bonus« hoffen kann, nachdem die SPD nun den Bundeskanzler stellt. Da die Bundesregierung erst wenige Monate im Amt sei, könnten die Sozialdemokraten noch »Schwung aus der Bundestagswahl mitnehmen« - beschleunigt durch ihre im Saarland errungene absolute Mehrheit, meint der Politikwissenschaftler. Allerdings mehrten sich auch kritische Stimmen über die Haltung des Kanzlers im Ukraine-Krieg.
Kutschaty könnte zumindest die Prominenz des Kanzlers nutzen, um bei gemeinsamen Wahlkampfauftritten selbst bekannter zu werden. Wüst, der in seinem früheren Amt als NRW-Verkehrsminister, auch keine große Berühmtheit erlangen konnte, hat inzwischen durch seinen Aufstieg in die Regierungsspitze und in seiner Funktion als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz an Profil gewonnen.
Sollte Wüst scheitern, wäre das auch für die Bundes-CDU und ihren noch relativ neuen Vorsitzenden Friedrich Merz in dessen wählerreichem Heimatland »ein herber Schlag«, sagte Marschall. »Friedrich Merz kann sich von der Wahl in NRW nicht so abkoppeln wie von der Wahl im Saarland.« Auch wenn die Wähler sehr wohl zwischen Bundes- und Landtagswahlen zu unterscheiden wüssten, könne ein Bundesparteichef nicht sagen: »Damit habe ich nichts zu tun.«
Mit drastischen Konsequenzen im Falle einer Wahl-Schlappe rechne er aber nicht, prognostiziert der Experte für politische Systeme. »Die CDU kann auch angesichts der nachfolgenden Landtagswahl in Niedersachsen kein Interesse daran haben, nochmals das zu exerzieren, was sie in den letzten Jahren immer gemacht hat: nämlich Vorsitzende zu demontieren und auszuwechseln.«
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