Indiens Premierminister Narendra Modi hat sich zum Sieger der Parlamentswahl erklärt - sein Koalitionsbündnis fuhr jedoch starke Stimmenverluste ein.
Die Menschen hätten seiner Regierungskoalition zum dritten Mal in Folge ihr Vertrauen ausgesprochen, schrieb der 73-Jährige auf X. Nach Auszählung fast aller Stimmen wird seine hindu-nationalistische BJP erneut stärkste Partei, verliert jedoch ihre absolute Mehrheit im Unterhaus. Damit ist sie auf Koalitionspartner angewiesen, um eine Regierung zu bilden.
Es galt zwar als sicher, dass Modi für eine dritte Amtszeit von fünf Jahren weiterregieren kann. Allerdings schloss Rahul Gandhi von der oppositionellen Kongress-Partei Gespräche mit zwei bisherigen Koalitionspartnern Modis nicht aus. Das Oppositionslager schnitt unerwartet gut ab und sprach von einem Sieg der Demokratie. Die Aktienbörse verzeichnete angesichts der Wahlschlappe Modis die stärksten Verluste seit vier Jahren.
Parlamentswahl in sieben Phasen
Die Parlamentswahl hatte über mehrere Wochen in sieben Phasen stattgefunden. Dabei waren knapp 970 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen.
Modi hatte die Messlatte für einen Erfolg im Wahlkampf selbst hoch gehängt: Seine Regierungskoalition werde mehr als 400 der zur Wahl stehenden 543 Sitze im Unterhaus gewinnen und ihre Mehrheit ausbauen, sagte er. Dieses Ziel hat er den vorläufigen Ergebnissen zufolge verfehlt. Trotzdem ließ sich der Politiker bei einer Feier am BJP-Hauptquartier mit Blütenblättern überschütten.
Die BJP hatte im Wahlkampf stark auf den selbst geschaffenen Personenkult um Modi gesetzt. Modi will nach Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister des Landes, der erst zweite Staatschef in der Geschichte des Landes werden, der drei Amtszeiten in Folge regieren kann. Doch statt seine Machtbasis wie erhofft weiter auszubauen, steht er jetzt geschwächt da.
Wahlkampf war stark von Modi geprägt
Der Wahlkampf war stark von der hindu-nationalistischen Agenda des 73-Jährigen geprägt, der sich als Indiens starker Mann präsentierte. Er und seine Partei wollen Indien zu einem Staat nur für die hinduistische Mehrheit machen, die 80 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
Schon jetzt werden Muslime und andere religiöse Minderheiten zunehmend wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Modi bezeichnete Muslime gar als »Eindringlinge«.
Den Wahlkampf hatte er auf den Ruinen einer jahrhundertealten Moschee begonnen, die radikale Hindus zerstört hatten. Einem Priester gleich weihte Modi dort einen großen hinduistischen Tempel ein. Modis Agenda ist das genaue Gegenteil der Vision von Gründervater Mahatma Gandhi, der sich einst für eine strikte Trennung von Religion und Staat ausgesprochen hatte.
Veränderungen seit Modis Machtübernahme
Modi kam vor einem Jahrzehnt mit dem Versprechen an die Macht, die indische Wirtschaft umzugestalten. Seither hat sich das Land stark verändert. Er ließ Milliardensummen in neue Infrastruktur investieren. Überall entstehen neue Straßen, Flughäfen und Bahnverbindungen.
Die Wirtschaftsleistung hat sich nahezu verdoppelt, inzwischen ist Indien die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, was Investoren anlockt. In aller Welt wird das Land um sein Wirtschaftswachstum beneidet, die Aktienmärkte boomen. Die Digitalisierung schreitet voran, mobile Netze sind günstig. Im vergangenen Jahr gelang Indien sogar eine erfolgreiche Mondlandung - als erst viertem Land überhaupt.
Doch es gibt Risse in der schönen Fassade. Viele Menschen finden keinen Job, Arbeitslosigkeit und Inflation sind hoch. Rund 800 Millionen der 1,4 Milliarden Menschen kommen offiziellen Angaben zufolge nur mit Sozialhilfe über die Runden. Das Wachstum ist extrem ungleich verteilt. Immer wieder wies das Oppositionslager um die Kongresspartei auf diese Zustände hin - und fand nun offenbar Gehör.
Opposition schneidet überraschend gut ab
Die Opposition schnitt viel besser ab als erwartet. »Ich bin extrem stolz auf die Menschen in Indien«, sagte Rahul Gandhi, Anführer der oppositionellen Kongress-Partei. Die Bevölkerung des Landes habe deutlich gezeigt, dass sie Modi als Regierungschef ablehne.
Das Oppositionslager warnte immer wieder vor einer Aushöhlung der Demokratie unter Modi. Auch wenn die Wahlkommission die Parlamentswahl mit knapp einer Milliarde zur Abstimmung gerufenen Menschen gerne die »größte demokratische Übung der Welt« nannte, machen sich viele Sorgen. »Wenn man Modis zweite Amtszeit als Maßstab nimmt, wird eine dritte Amtszeit nicht gut für die langfristige Gesundheit der indischen Demokratie sein«, so der Politologe und Südasien-Experte Sumit Ganguly von der Indiana University in den USA.
»Die Institutionen des Landes, die seit ihrer Gründung Herausforderungen gemeistert haben, sehen sich nun existenziellen Bedrohungen gegenüber, die ihren demokratischen Kern auflösen könnten«, schrieb er kürzlich im Fachmagazin »Journal of Democracy«. Modi habe die Macht in seinem Amt zentralisiert, die Unabhängigkeit der Justiz und Medien untergraben und die ideologischen Ziele seiner Partei mit rücksichtsloser Effizienz verfolgt, hieß es in der Zeitschrift »Foreign Affairs«.
Opposition kritisiert Modi
Ähnlich warf die Opposition Modi vor, Staatsorgane zu nutzen, um sie zum Schweigen zu bringen. Mehrere Oppositionspolitiker saßen wegen Korruptionsvorwürfen während des Wahlkampfes in Untersuchungshaft.
Modi schrieb zudem jegliche positive Entwicklung seines Landes seiner eigenen Führung zu und nutzte die bisher immer größer werdende Bedeutung Indiens auf der Weltbühne. Deutschland, die USA und andere westliche Staaten suchen angesichts eines immer aggressiver auftretenden Chinas zunehmend engere Beziehungen zum Subkontinent. Dabei sehen sie nach Meinung von Kritikern darüber hinweg, dass Indien beim Ukraine-Krieg neutral bleibt, viel günstiges russisches Öl kauft und gute Beziehungen zu Moskau pflegt.
© dpa-infocom, dpa:240604-99-269836/8