So voll ist die Bundespressekonferenz sonst allerhöchstens, wenn sich der Bundeskanzler ankündigt: Unter außergewöhnlich starkem Medienandrang hat die bisher prominenteste Politikerin der Linken, Sahra Wagenknecht, am Montag mit mehreren Mitstreitern in Berlin ihren Austritt aus der Linken bekanntgegeben und Pläne für die Gründung einer neuen Partei präsentiert. Die 38-köpfige Linksfraktion im Bundestag steht damit vor ihrer Auflösung, das Parteiensystem im Land vor einer weiteren Zersplitterung.
Parteigründung im Januar
Bei der Pressekonferenz legten Wagenknecht und ihre Unterstützer ein Papier mit inhaltlichen Positionen zur Wirtschafts-, Sozial-, Außen-, Migrations- und Gesellschaftspolitik des kürzlich gegründeten Vereins »Bündnis Sahra Wagenknecht« vor. Der Verein soll die Parteigründung, die für Januar geplant ist, vorbereiten und Spenden einsammeln. »Wir haben uns zur Gründung einer neuen Partei entschieden, weil wir überzeugt sind, so wie es derzeit läuft, darf es nicht weitergehen«, sagte die 54-Jährige. »Denn sonst werden wir unser Land in zehn Jahren wahrscheinlich nicht wiedererkennen.«
Antritt bei Landtagswahlen im Osten angestrebt
Die neue Partei soll demnach zur Europawahl im Juni 2024 antreten. Auch bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im kommenden Jahr strebe man an zu kandidieren, sagte Wagenknecht. Das werde aber davon abhängen, wie die Landesverbände bis dahin aufgestellt seien und welche Kandidaten man vor Ort habe. In den drei Bundesländern lag die AfD zuletzt in Umfragen vorn. Eine YouGov-Umfrage hatte aber im September gezeigt, dass sich im Osten fast jeder Dritte zumindest theoretisch vorstellen könnte, eine Wagenknecht-Partei zu wählen - solche Umfragen zeigen aber lediglich ein theoretisches Wählerpotenzial und sind keine Prognosen. Brandenburgs AfD-Chefin Birgit Bessin kritisiere am Montag, Wagenknecht setze auf eine Spaltung der Opposition.
Mit der AfD werde man keine gemeinsame Sache machen, sagte Wagenknecht. Man bringe eine Partei an den Start, damit diejenigen eine »seriöse Adresse« hätten, die auch aus Wut, aber nicht, weil sie rechts seien, darüber nachdächten, AfD zu wählen.
Parteiname nur »Übergangslösung«
Die Partei wird nach Angaben Wagenknechts nicht dauerhaft »Bündnis Sahra Wagenknecht« heißen. Sie sprach am Montag von einer Übergangslösung. Man wolle eine Partei auf den Weg bringen, die sich »für die nächsten 40 oder 50 Jahre« im deutschen Parteiensystem etabliere. »Ich kann Ihnen versprechen, so lange werde ich garantiert nicht mehr Politik in Deutschland machen.«
Der Schritt wirbelt nicht nur die deutsche Parteienlandschaft durcheinander, er sprengt auch die Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Die bisherige Co-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali und acht weitere Abgeordnete gehen mit Wagenknecht. Nach Mohamed Alis Angaben traten alle am Montagmorgen aus der Linkspartei aus. Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch bestätigte den Parteiaustritt von zehn Abgeordneten und nannte den Schritt »unverantwortlich und inakzeptabel«.
Trotzdem erst einmal Verbleib in der Fraktion?
Bis zur Parteigründung im Januar will die Zehner-Gruppe um Wagenknecht aber trotzdem weiter Teil der Linksfraktion bleiben. Die Fraktion werde darüber »souverän und in großer Ruhe entscheiden«, erklärte Bartsch in Berlin. Warum aus der Linken austreten, aber in der Fraktion bleiben? Wagenknecht begründete das auch mit Rücksicht auf Beschäftigte in der Fraktion und einem »geordneten Übergang«.
Hintergrund: Schrumpft die Fraktion auf unter 37 Abgeordnete, verliert sie ihren Status als Fraktion und kann nur noch als sogenannte Gruppe weitermachen. Fraktionen im Bundestag haben mehr Rechte und bekommen öffentliche Mittel, zum Beispiel für die Organisation von Veranstaltungen und vor allem für die Beschäftigung von Mitarbeitern. Viele drohen nun ihre Jobs zu verlieren.
Der Chef der Linkspartei, Martin Schirdewan, forderte Wagenknecht und ihre Unterstützer am Montag erneut dazu auf, ihre Bundestagsmandate abzugeben. Er schloss aber auch nicht aus, dass die Ausgetretenen noch bis Jahresende in der Fraktion bleiben. »Das Interesse der Beschäftigten dieser Fraktion ist uns eine Herzensangelegenheit«, sagte Schirdewan. Wagenknecht lehnt einen Mandatsverzicht ab.
Welche Themen?
Wagenknecht und ihre Mitstreiter präsentierten am Montag ein Papier mit ihren politischen Ideen. Darin fordern sie unter anderem »wirtschaftliche Vernunft«, »soziale Gerechtigkeit« und »Frieden«. In Deutschland werde seit Jahren »an den Wünschen der Mehrheit vorbei regiert«. Viele Menschen hätte das Vertrauen in den Staat verloren und fühlten sich durch keine der vorhandenen Parteien mehr vertreten.
Wagenknecht kritisierte erneut scharf die Ampel-Koalition, die Deutschland schlecht regiere. In der Wirtschaftspolitik nannte sie die Sanktionen gegen Russland mit Blick auf die hohen Energiepreise und warnte vor einer Abwanderung wichtiger Industrien. Man müsse auch wegkommen von einem »blinden, planlosen Öko-Aktivismus«. Beim Thema Migration kritisierte Wagenknecht, ungeregelte Zuwanderung verschärfe Probleme an Schulen vor allem in ärmeren Wohngebieten.
Linken-Chef will Bundestagsfraktion möglichst erhalten
Die Linke versucht nach Angaben von Parteichef Martin Schirdewan, ihre Bundestagsfraktion zumindest übergangsweise zu erhalten. Nach dem Parteiaustritt von zehn Abgeordneten um die frühere Fraktionschefin Sahra Wagenknecht forderte Schirdewan erneut, diese müssten ihre Mandate abgeben. Andernfalls wäre dies ein »höchst unmoralischer Diebstahl« der Sitze. Wenn andere Linken-Politiker in den Bundestag nachrücken könnten, ließe sich die Existenz der Fraktion sichern.
Für den Fall, dass Wagenknecht und ihre neun Unterstützer der Aufforderung nicht nachkommen, schloss Schirdewan aber auch nicht aus, dass die Ausgetretenen noch bis Jahresende in der Fraktion bleiben. Dabei geht es um die Weiterbeschäftigung der mehr als 100 Fraktionsbeschäftigten, wie Schirdewan deutlich machte. »Das Interesse der Beschäftigten dieser Fraktion ist uns eine Herzensangelegenheit.«
Grüne reagieren zurückhaltend auf Wagenknecht-Pläne
Grünen-Chef Omid Nouripour hat reserviert auf die Pläne der bisherigen Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht zur Gründung einer eigenen Partei reagiert. »Zur Partei- und Vereinsgründung gibt es noch sehr viele offene Fragen«, sagte Nouripour in Berlin. »Ich weiß nicht, wo die Reise hingeht, wie die Verfasstheit sein wird und welche Kraft diese Partei entwickeln kann. Das entscheidet sich nicht in Talkshows, sondern bei Kärrnerarbeit vor Ort. Und die würde ich gerne noch sehen. Die steht noch aus.«
© dpa-infocom, dpa:231023-99-664810/21