75 Jahre nach dem ersten Zusammentreffen der »Väter und Mütter« des Grundgesetzes hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck von allen Bürgern Engagement gefordert und für eine wehrhafte Demokratie geworben. »Es liegt an uns«, betonte er bei einem Festakt am Freitag in Bonn immer wieder. Demokratie brauche »den Bürger, der den Staat nicht nur als Fürsorgeinstitution begreift, der ihn gegen möglichst alle Risiken im Leben absichert, sondern der sich selbst zum Mitgestalter des Gemeinwesens erklärt.«
Bei dem Festakt im Naturhistorischen Museum Koenig, wo der Rat am 1. September 1948 erstmals zusammengekommen war, zitierte er den Sozialdemokraten Carlo Schmid, damals Ratsmitglied: »Mut zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.« Auch Vertreter anderer Verfassungsorgane erinnerten an die erste Zusammenkunft des Parlamentarischen Rats und die Anfänge des deutschen Grundgesetzes.
61 Männer und vier Frauen haben das Grundgesetz erarbeitet
Die 61 Männer und vier Frauen des Rates arbeiteten vor 75 Jahren - gemäß den Vorgaben der Westallierten - das Grundgesetz für einen westdeutschen Staat aus.
»Wir haben uns angewöhnt, von den «Vätern und den vier Müttern» des Grundgesetzes zu sprechen«, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). »Das klingt nach Weisheit und Harmonie.« Tatsächlich seien gegensätzliche Positionen aufeinandergetroffen, nicht alle hätten dem Grundgesetz am Ende zugestimmt. Konflikte gab es etwa um den Stellenwert der Kirche oder die Ausgestaltung des Wahlrechts und des Föderalismus. Lange ringen mussten die nur vier weiblichen Mitglieder um den Satz »Männer und Frauen sind gleichberechtigt« - andere Mitglieder wollten eine so eindeutige Formulierung ursprünglich verhindern.
Bas: Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte
»Aus dem Provisorium Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte geworden«, sagte Bas. Es gebe aber keinen Anlass, selbstgerecht zu sein. Freiheitliche Demokratie sei keine Selbstverständlichkeit. Parteien und Parlamente sollten neue Wege ausprobieren, Menschen einzubeziehen. Abgeordnete sollten mit einer Sprache sprechen, die verstanden werde. Und: Man müsse zusammenstehen gegen jene, »die ein Land wollen, in dem die Würde des Menschen eben nicht unantastbar ist.« Die freiheitliche Demokratie müsse sich gegen ihre Feinde verteidigen, »notfalls auch mit Waffen und unter Opfern wie in der Ukraine«.
Auch Gauck warnte: »Die Freiheit kann aus der Freiheit heraus abgeschafft werden. Demokratie kann sich selbst auf quasi-demokratische Weise zerstören.« Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am Rande der Feierstunde, es sei wichtig zu verstehen, »dass diese beste Demokratie, die wir in Deutschland je hatten, auch eine ist, die wir verteidigen müssen«.
Bas: Bürgern in der DDR wurde Freiheit enthalten
Gauck und Bas erinnerten an jene Deutschen, die damals in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR lebten. Bas sagte: »Freiheit und demokratische Selbstbestimmung wurden ihnen vorenthalten. Bis sie sich beides 1989 selbst erkämpften.« Das Grundgesetz wurde 1990 bei der Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands übernommen.
Das Museum Koenig war 1948 schlicht deshalb ausgewählt worden, weil als eines von wenigen Gebäuden im Krieg unbeschädigt geblieben war. Schauplatz der eigentlichen Beratungen war die 500 Meter entfernte Pädagogische Akademie. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz schließlich in Bonn unterzeichnet.
Umgeben von Zebras, Elefanten und Giraffen
Gauck und Bas hielten ihre Reden im Ausstellungsbereich »Savanne« des Museums, umgeben von Präparaten von Zebras, Elefanten und Giraffen. Genau in dem Saal wurde der Rat am 1. September 1948 feierlich eröffnet. Das Giraffenmodell, das am Freitag den Raum überblickte, ist immer noch dasselbe, das 1948 mit im Saal war, als die 65 Mitglieder des Rats erstmals zusammenkamen - es wurde damals aber abgedeckt. Die »Bundesgiraffe« habe sich kein Stück verändert - im Gegensatz zum Grundgesetz, sagte Bas.
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