Beim EU-Gipfel in Brüssel hat der ungarische Regierungschef Viktor Orban nach einem überraschenden Einlenken für EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine doch noch für einen Eklat gesorgt. Wegen eines Vetos Ungarns konnten die anderen Staats- und Regierungschefs nicht wie geplant eine Überarbeitung des EU-Haushalts inklusive eines 50 Milliarden Euro schweres Finanzhilfen-Paket für die Ukraine beschließen. Die Verhandlungen müssen deswegen im kommenden Jahr bei einem Sondergipfel fortgesetzt werden.
Ob es dabei eine Einigung geben wird, ist allerdings völlig unklar, da Orban seine Zustimmung zur notwendigen Überarbeitung des EU-Haushalts mit der Auszahlung von eingefrorenen EU-Geldern für sein Land verknüpft. »Die Tatsache, dass sie das Siebenjahreshaushaltsgesetz der Union ändern wollen, ist eine ausgezeichnete Chance für Ungarn, den Rest der zurückgehaltenen Mittel zu erhalten«, sagte er in einem Interview. »Wir müssen nicht die Hälfte, nicht ein Viertel, sondern alles bekommen«, erklärte Orban. »Dieses Geld steht uns zu.«
Orban will 21 Milliarden Euro
Orban bezog sich mit den Äußerungen darauf, dass die EU im vergangenen Jahr entschieden hatte, für Ungarn eingeplante Gelder aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt wegen Rechtsstaatsbedenken vorerst nicht auszuzahlen. Nach Justizreformen wurden am Mittwoch zwar rund zehn Milliarden Euro freigegeben. Eine Summe von etwa 21 Milliarden Euro soll allerdings erst dann fließen, wenn Ungarn weitere Bedenken ausgeräumt hat.
Orban kritisiert dieses Vorgehen bereits seit Monaten als ungerechtfertigt. Eines seiner Argumente ist, dass das Nicht-EU-Land Ukraine europäische Finanzhilfen in Milliardenhöhe erhält, obwohl es auch dort Kritik an der Rechtsstaatlichkeit gibt.
EVP-Fraktion für Prüfung von Ungarn-Milliarden
Die christdemokratische EVP-Fraktion im Europaparlament will eine Untersuchung zu EU-Milliardenzahlungen an Ungarn. »Mit der Freigabe von EU-Geldern für Ungarn wird ein sehr problematischer Eindruck erweckt«, sagte der EVP-Vorsitzende Manfred Weber. Seine Fraktion werde im Europaparlament eine Prüfung der jüngsten Entscheidung der EU-Kommission zur Freigabe von Geldern für Ungarn auf den Weg bringen, so der CSU-Politiker.
»Die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit darf nicht politischen Erwägungen zum Opfer fallen«, sagte Weber. Es stehen Vorwürfe im Raum, dass die Freigabe der Gelder mit Blockadedrohungen Ungarns bei der Unterstützung der Ukraine in Zusammenhang steht. Die EU-Kommission widerspricht dieser Vorhaltung. Weber forderte, dass künftig der Europäische Gerichtshof feststellen müsse, ob in einem EU-Staat die Rechtsstaatsprinzipien eingehalten werden.
Von der Leyen will an Notfallplan arbeiten
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält im EU-Haushaltsstreit mit Ungarn einen Ausweg ohne Zustimmung aus Budapest für möglich. Man arbeite hart an einer Lösung, der alle EU-Staaten zustimmen können. »Aber ich denke, dass es jetzt auch notwendig ist, an möglichen Alternativen zu arbeiten«, sagte von der Leyen nach einem EU-Gipfel in Brüssel.
Die jüngsten Pläne sehen vor, für die Ukraine in den kommenden vier Jahren 17 Milliarden Euro an Zuschüssen und 33 Milliarden Euro an Krediten einzuplanen. Das Geld soll über eine Überarbeitung des langfristigen EU-Haushalts mobilisiert werden. Zusätzliches Geld ist auch für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und die Migrationspolitik der EU vorgesehen.
Von den 27 EU-Staaten seien 26 bereit, zusätzliches Geld zur Verfügung zu stellen, betonte von der Leyen. Nur Ungarn sei nicht an Bord.
Wenn Orban Anfang kommenden Jahres nicht umgestimmt werden kann, müssten neue Finanzhilfen für die Ukraine ohne Geld aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt finanziert werden. An Plänen dafür soll nach Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jetzt gearbeitet werden. »Was auch immer beim nächsten Gipfel passiert, wir werden eine funktionierende Lösung haben«, sagte sie. Für die kommenden Monate ist die Finanzierung der Ukraine noch gesichert.
Scholz schließt Zugeständnisse aus
Zugeständnisse an Orban bei den Bedingungen für die Auszahlung eingefrorener Gelder für Ungarn werden öffentlich ausgeschlossen. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte nach dem Gipfel: »Man darf Dinge nicht miteinander verknüpfen. Das ist in der Vergangenheit nicht passiert und das wird in der Zukunft nicht passieren.«
Europaabgeordnete hatten bereits die Kommissionsentscheidung zur Freigabe der rund zehn Milliarden Euro am Mittwoch als ungerechtfertigt kritisiert und der Behörde vorgeworfen, sich erpressen zu lassen.
Stimmrechtsentzug als Option?
Als ein mögliches Druckmittel gegen Orban wird in Brüssel die Option gesehen, ein bereits seit Jahren gegen Ungarn laufendes EU-Verfahren wegen Rechtsstaatsdefiziten voranzutreiben. Über dieses könnte dem Land am Ende sogar das Stimmrecht bei EU-Abstimmungen entzogen werden.
Realistischer ist diese Option zuletzt durch den Machtwechsel in Polen geworden. In den vergangenen Jahren hatten sich die rechtsnationalen Regierungen in den beiden Ländern in dem sogenannten Artikel-7-Verfahren immer gegenseitig unterstützt, was echte Fortschritte unmöglich machte.
Eine glaubhafte Drohung mit einem Stimmrechtsentzug könnte Orban möglicherweise auch von weiteren Blockadeankündigungen zum EU-Beitrittsprozess der Ukraine abhalten.
»75 Möglichkeiten, diesen Prozess zu stoppen«
Ungarn habe »noch 75 Möglichkeiten, diesen Prozess zu stoppen«, drohte Orban. Am Tag zuvor hatte er noch überraschend ermöglicht, den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu beschließen, indem er nicht an der entscheidenden Abstimmung teilnahm. Nach Angaben des scheidenden niederländischen Regierungschefs Mark Rutte zeigte ihm der Bundeskanzler Olaf Scholz diesen Weg auf. Ungarn konnte so bei seinem Nein zu den Beitrittsverhandlungen bleiben, ohne sie zu blockieren.
Ein Verfahrenstrick? Davon würde er selbst nicht sprechen, sagte Scholz. »Es ist eine Entscheidung, die wir entsprechend unserer Regeln einvernehmlich getroffen haben.« Der Kanzler fügte aber hinzu: »Das ist jetzt nichts, was man jedes Mal machen sollte.«
Nach Angaben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron war es nicht das erste Mal, dass ein Staats- und Regierungschef den Verhandlungstisch verließ, um den Weg für eine Entscheidung freizumachen. »Ich erinnere daran, dass Kanzlerin Merkel selbst nicht an der Abstimmung über die Präsidentschaft der Europäischen Kommission teilnehmen konnte, da sie nicht die Zustimmung ihrer Koalitionspartner hatte«, sagte er. Damals, im Jahr 2019, war Angela Merkels CDU-Parteifreundin Ursula von der Leyen nominiert worden. Die SPD lehnte dies ab.
© dpa-infocom, dpa:231215-99-304305/12