Vor den mit Spannung erwarteten Abstimmungen des Weltsicherheitsrates über zwei konkurrierende Resolutionen zur Deeskalation in Nahost hat das Gremium seine Sitzung unterbrochen. Auf Antrag der Vereinigten Arabischen Emirate zogen sich die 15 Ratsmitglieder zu Konsultationen hinter geschlossenen Türen zurück. Aus Diplomatenkreisen verlautete, dass einige Länder noch Gesprächsbedarf zum brasilianischen Vorschlag hätten.
Das mächtigste UN-Gremium in New York will noch am Abend (Ortszeit) über einen brasilianischen Resolutionsentwurf zur Eindämmung der Gewalteskalation im Nahen Osten abstimmen.
Es gilt als wahrscheinlich, dass auch ein konkurrierender russischer Text zur Abstimmung gestellt wird. Die Entwürfe liegen der Deutschen Presse-Agentur vor. Brasilien, das dem UN-Sicherheitsrat derzeit vorsitzt, verlangt in seinem Entwurf neben dem Zugang für humanitäre Hilfe unter anderem, dass Israel seine Aufforderung zur Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem nördlichen Gazastreifen rückgängig macht. Das Land wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht direkt genannt. Damit folgt das Papier den Aussagen der UN, die eine Evakuierung von über einer Million Menschen in dem dicht besiedelten Küstengebiet binnen 24 Stunden als unmöglich bezeichnet hatten und vor einem humanitären Desaster warnten.
Annahme der Entwürfe unwahrscheinlich
Im brasilianischen Entwurf wird die Hamas-Attacke auf Israel zudem als »abscheulicher Angriff« verurteilt. Es wird betont, dass beide Konfliktparteien sich an das internationale Völkerrecht zu halten hätten. Gebäude und Institutionen der Vereinten Nationen müssten geschützt werden. Brasilien hatte den Text nach Änderungswünschen Großbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Arabischen Emirate in der Nacht zum Montag noch einmal angepasst.
Auch Russland hatte zuvor eine Abstimmung seiner eigenen Resolution ebenfalls für Montagabend angestrebt. Im russischen Text werden unter anderem eine »humanitäre Feuerpause« sowie die Freilassung der israelischen Geiseln gefordert. Der terroristische Angriff wird jedoch nicht direkt verurteilt.
Während dem russischen Text keine Chancen eingeräumt werden, gilt auch die Annahme des brasilianischen Entwurfs als unwahrscheinlich. Die USA hatten ihren Verbündeten Israel in der Vergangenheit mit ihrem Vetorecht vor unliebsamen Resolutionen geschützt. Eine Annahme benötigt mindestens neun Ja-Stimmen der 15 Mitglieder, zudem darf es kein Veto geben. Neben den USA haben Russland, China Frankreich und Großbritannien ein Veto-Recht.
Die Abstimmungen des Weltsicherheitsrates erhöhen den Druck vor allem auf Israel, das kurz vor einer Bodenoffensive im Gazastreifen zu stehen scheint. Resolutionen des UN-Gremiums sind völkerrechtlich bindend.
Biden: Besetzung wäre »großer Fehler«
US-Präsident Joe Biden würde es für einen »großen Fehler« halten, wenn Israel den Gazastreifen wieder besetzen sollte. »Die extremen Elemente der Hamas repräsentieren nicht das gesamte palästinensische Volk. Und ich denke, es wäre ein Fehler von Israel, Gaza erneut zu besetzen«, sagte Biden in einem Interview der CBS-Nachrichtensendung »60 Minutes«.
Antwortend auf die Frage des Moderators Scott Pelley, ob der US-Präsident eine Gaza-Besetzung an diesem Punkt unterstützen würde, sprach Biden sogar von einem »großen Fehler«.
»Hineinzugehen und die Extremisten auszuschalten«, sei allerdings notwendig, sagte er weiter. Er gehe davon aus, dass sich Israel an geltendes Kriegsrecht halte und Standards befolge, wie etwa, Unschuldigen in Gaza den Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmitteln und Wasser zu ermöglichen.
UN-Chef Guterres: Naher Osten »am Rand des Abgrunds«
Angesichts eines Nahen Ostens »am Rande des Abgrunds« hat UN-Generalsekretär António Guterres eindringlich die sofortige Freilassung der von der islamistischen Hamas verschleppten Geiseln und raschen humanitären Zugang zum Gazastreifen gefordert. »Jedes dieser beiden Ziele ist berechtigt«, sagte Guterres laut Mitteilung. »Sie sollten nicht zu Verhandlungsmasse werden und sie müssen umgesetzt werden, weil es das Richtige ist.«
Unter anderem in Ägypten, Jordanien, Israel und dem Westjordanland hätten die Vereinten Nationen Nahrung, Wasser, Medikamente, Treibstoff und andere Dinge gelagert, die innerhalb von Stunden an bedürftige Menschen in Gaza geliefert werden könnten - wenn sicherer Zugang denn gewährt würde.
Abbas: Hamas repräsentieren nicht das Volk
Die Taten und die Politik der Hamas repräsentieren nach den Worten von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nicht das palästinensische Volk. Er lehne die Tötung von Zivilisten auf beiden Seiten ab, betonte Abbas, der die Autonomiebehörde im Westjordanland leitet, in einem Telefonat mit Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro, wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete. Abbas forderte alle Beteiligten auf, Gefangene freizulassen.
Der jordanische König Abdullah II. warb derweils einem Besuch in London für ein Ende des Gazakonfliktes. Bei einem Treffen mit dem britischen Premierminister Rishi Sunak am Sonntagabend sei es darum gegangen, wie eine Eskalation in der weiteren Region verhindert werden könne, hieß es aus dem britischen Regierungssitz 10 Downing Street. Die beiden seien sich auch einig gewesen, dass es wichtig sei, Zivilisten in Gaza zu schützen, »einschließlich britischer und jordanischer Staatsbürger, die zwischen die Fronten geraten sind«. Zudem müsse sichergestellt werden, dass humanitäre Hilfe Bedürftige erreiche, hieß es weiter.
Scholz plant Israel-Reise
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reist am Dienstag nach Israel. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur, nachdem zuvor die »Bild«-Zeitung darüber berichtet hatte. Eine offizielle Bestätigung des Kanzleramts gab es zunächst aber nicht. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) war bereits am Freitag zu einem Solidaritätsbesuch nach Israel gereist.
Scholz wird am Dienstagmorgen zunächst den jordanischen König Abdullah II. in Berlin treffen und dann nach Israel aufbrechen. Anschließend geht es weiter nach Ägypten. Scholz hatte in den vergangenen Tagen bereits zwei Mal mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu telefoniert. Außerdem sprach er mit den Staatschefs von Katar, Ägypten und der Türkei. Dabei ging es auch die Befreiung der Geiseln.
Sorge vor Ausweitung des Konflikts
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte den Iran vor einer Eskalation und Ausweitung des Konflikts, insbesondere im Libanon. Angesichts der engen Beziehungen Irans zur Hisbollah-Miliz im Libanon und zur Hamas im Gazastreifen trage die Führung in Teheran Verantwortung, sagte Macron in einem Telefonat mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raissi. Er forderte ihn auf, alles tun, um einen regionalen Flächenbrand zu verhindern. Die vom Iran finanzierte Hisbollah gilt als wesentlich schlagkräftiger als die Hamas.
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