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Terrorprozess in Brüssel: Auf der Suche nach Antworten

Mehr als sechs Jahre nach den islamistischen Terror-Anschlägen in Brüssel beginnen die Gerichtsverhandlungen. Bis heute kämpfen viele Opfer mit den Folgen. Kann der Prozess die Wunden schließen?

Terroranschläge in Brüssel
Menschen trauern nach den islamistischen Terror-Anschlägen in Brüssel. Foto: Christophe Petit Tesson
Menschen trauern nach den islamistischen Terror-Anschlägen in Brüssel.
Foto: Christophe Petit Tesson

Die erste Bombe explodiert um 7.58 Uhr, wenige Sekunden später eine zweite. Um 9.11 Uhr folgt die dritte und letzte. »Ich war an dem Tag wütend. Dass ich so sterben würde, einfach weil jemand es beschlossen hat, in einer Metro«, sagt Christelle Giovannetti.

Die 37-Jährige ist eine Überlebende der terroristischen Anschläge in Brüssel am 22. März 2016. Damals töteten drei islamistische Selbstmordattentäter 32 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Von diesem Montag an stehen in der belgischen Hauptstadt die überlebenden mutmaßlichen Täter vor einem Schwurgericht.

Giovannetti saß in der Metro, als islamistische Attentäter im EU-Viertel die dritte Bombe zündeten, einen Waggon weiter. Etwa eine Stunde zuvor hatten andere Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zwei Sprengkörper am Flughafen Zaventem hochgehen lassen. Nun ist sie eine von mehr als 900 Nebenklägerinnen und -klägern in dem Prozess, der vermutlich neun Monate dauern wird.

»Ich habe das Ausmaß der Schäden gesehen und alle Toten und Verletzten, in einer Art Chaos. Aber es war sehr still, sehr ruhig, und auch sehr staubig«, erinnert sie sich. Sie konnte den Waggon verlassen, blieb aber in der Station Maelbeek, um Hilfe zu leisten. Durch den lauten Knall der Explosion wurden ihre Ohren verletzt. Das merkt Giovannetti, die heute als Lehrerin für Erwachsene mit einer Behinderung arbeitet, immer noch. »Ich trage Hörgeräte und habe oft Tinnitus. Lärm macht mir zu schaffen.«

Ersthelfer: »War nicht bereit für den 22. März«

Auch Gaetan Meuleman, der damals Erste Hilfe leistete, kann die Bilder nicht vergessen. »Ich dachte, ich hätte alles gesehen während einer ziemlich langen Karriere auf der Intensivstation. Aber ich war nicht bereit für den 22. März«, sagt Meuleman, ein ehemaliger Intensivpfleger, der nun ein Altersheim leitet. Er half beim Aufbau eines Feldlazaretts in einem Hotel nahe der Metrostation - dort, wo sonst EU-Beamte essen gehen. Bis heute hat der 52-Jährige in Menschenmengen oder geschlossenen Räumen den Reflex, nach Notausgängen Ausschau zu halten.

Louis Vanardois verlor seine Freundin My Atlegrim durch den Anschlag in der U-Bahn. Tagelang suchte er damals die Krankenhäuser ab, in der Hoffnung, sie doch noch zu finden. »Meine größte Angst war, sie zu verlieren. Und ich wusste, dass ich dabei war, meine größte Angst zu durchleben«, erzählt der 38-Jährige. Dann bekam er von der Polizei die Nachricht, dass Atlegrim zu den Toten gehört.

»Ich habe sehr lange gebraucht, um mich davon zu erholen. Und ich glaube, der Prozess ist noch nicht ganz zu Ende«, sagt Vanardois, der heute in einem Biomarkt arbeitet. »Es war sehr hart, weil es meine erste große Liebesgeschichte war.« Jahrelang wollte er nichts von Entschädigung oder seinen Rechten als Opfer der Anschläge wissen. »Ich wollte einfach, dass sie sie wieder zum Leben erwecken.«

Angehöriger: »Nichts kann mir My zurückgeben«

Durch Kontakt mit der Organisation Life4Brussels (Leben für Brüssel), die die Opfer vertritt, entschied Vanardois sich schließlich, im Prozess als Zeuge auszusagen. Er hofft, dass ihm der Prozess hilft, mit den Geschehnissen abzuschließen. Wie es ihm gehen wird, wenn er den Angeklagten begegnen wird, weiß er nicht. »Ich frage mich, was die Strafen sein werden«, sagt Vanardois. Und er ist unsicher, ob er sie als gerecht empfinden wird. »Nichts kann mir My zurückgeben.«

Insgesamt sind zehn Männer angeklagt - einer davon gilt als vermisst, möglicherweise in Syrien verstorben. Ihnen wird terroristischer Mord, versuchter terroristischer Mord sowie die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Im September fand bereits eine Voranhörung statt. Der eigentliche Auftakt wurde jedoch verschoben - wegen eines Streits, wie die Angeklagten im Saal untergebracht sind. Nun sitzen sie gemeinsam in einem Glaskasten.

Unter den Angeklagten sind auch sechs, die bereits im Prozess um die Anschlagsserie in Paris von November 2015 verurteilt wurden - auch der dortige Hauptangeklagte Salah Abdeslam. Der 33-Jährige wurde in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt und auch in Belgien bereits zu 20 Jahren, wegen einer Schießerei, bei der drei Polizisten verletzt wurden. Bei den Pariser Attentaten hatten Islamisten 130 Menschen getötet und 350 weitere verletzt. Die Anschläge in den beiden Hauptstädten wurden wahrscheinlich von derselben terroristischen Zelle geplant.

Überlebende: »Der Weg geht weiter, er ist noch lang«

Meuleman erhofft sich davon vor allem Antworten. »Ich will versuchen, das Unverständliche zu verstehen ... Verstehen, was junge Menschen heute dazu bringt, solche Attentate zu verüben.« Er hat sich nach dem Attentat offiziell als Ersthelfer gemeldet. Kürzlich war er bei einem Anschlag auf zwei Polizisten in Brüssel im Einsatz. Ganz kann die Wunde für Meuleman jedoch nicht zusammenwachsen. »Das Blatt wenden können wir nicht, es ist wie ein Tattoo«, sagt er.

»Ich glaube, der Prozess ist eine demokratische Art der Bestrafung«, sagt Giovannetti. »Es ist wichtig, dass man in unserem Land sagen kann 'Nein, wir akzeptieren so etwas nicht'.« Sie hofft, dass der Prozess ein Abschluss sein wird. »Doch ich glaube, die Traumata werden danach immer noch da sein ... Der Weg geht weiter, er ist noch lang.«

© dpa-infocom, dpa:221203-99-762363/2