Der äußerst blutige Konflikt zwischen der islamistischen Hamas und Israel wirft viele Fragen auf. Neben Soldaten und Kämpfern werden auch viele Zivilisten auf beiden Seiten verwundet, getötet oder entführt. Was sagt das humanitäre Völkerrecht, und wo ist die Grenze zu Kriegsverbrechen?
Gilt bei diesem Konflikt das humanitäre Völkerrecht?
Ja. Es ist unerheblich, ob es sich um einen erklärten Krieg, einen internationalen bewaffneten Konflikt oder einen internen bewaffneten Konflikt handelt. Das Grundprinzip des sogenannten humanitären Völkerrechts - der internationalen Regeln zur Kriegsführung - ist in allen Fällen, dass Zivilisten so weit wie möglich geschützt werden müssen. Angriffe dürfen immer nur auf militärische Ziele erfolgen.
Aus Sicht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC), das weltweit die Einhaltung des Kriegsrechts überwacht, besteht ein »bewaffneter Konflikt« zwischen Israel und einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppierung - dem militärischen Arm der Hamas. Laut Rotem Kreuz gilt auch in diesem Fall das humanitäre Völkerrecht.
Wie ist der Einsatz menschlicher Schutzschilder zu beurteilen?
Wer Zivilpersonen benutzt, um militärische Ziele zu schützen, begeht nach den Worten der Völkerrechts-Expertin der Universität Basel, Anna Petrig, eindeutig ein Kriegsverbrechen. »Das ist nie erlaubt.« Vor diesem Hintergrund scheint auch die Aufforderung der Hamas an die Bevölkerung des Gazastreifens, dessen Nordhälfte trotz israelischer Warnungen nicht zu verlassen, problematisch.
Darf Israel angreifen, auch wenn Zivilisten gefährdet sind?
Im Prinzip ja, sagt Völkerrechts-Expertin Petrig. Solange es sich um ein militärisches Ziel handle, sei das rechtlich zunächst nicht zu beanstanden. Zivile Kollateralschäden müssten aber verhältnismäßig zum erzielten militärischen Vorteil sein. Die Zerstörung eines großen Militärflughafens rechtfertigt demnach mehr zivile Opfer als der Angriff auf eine kleine militärische Stellung.
Darf Israel dem Gazastreifen Gas und Wasser abdrehen?
Solch eine Belagerung sei eine »kollektive Bestrafung« der Zivilbevölkerung, die nach internationalem Recht strikt verboten sei, sagte die Sprecherin des UN-Büros für Menschenrechte, Ravina Shamdasani. Petrig sagt hingegen: »Belagerung ist grundsätzlich keine verbotene Kriegsmethode.« Sollte das Ziel aber sein, die Bevölkerung auszuhungern, wäre es verboten und sogar ein Kriegsverbrechen. »Es gibt aber Grauzonen«, so die Expertin. Unklar ist im Völkerrecht, ob es bereits reicht, wenn das Aushungern ein Nebeneffekt der Belagerung ist - oder ob das Aushungern das Ziel selbst sein muss.
Wie ist der Aufruf zur Massenevakuierung einzuordnen?
Die Anweisung aus Israel zur Räumung des nördlichen Gazastreifens widerspräche zusammen mit der Belagerung internationalem Recht, stellte das ICRC fest. In dem dicht besiedelten Küstenstreifen habe die Bevölkerung keine Chance, sich woanders in Sicherheit zu bringen, argumentierte das Rote Kreuz.
Wie ist eine israelische Bodenoffensive in Gaza zu beurteilen?
Auch hier gilt: Solange militärische Ziele im Visier sind und die Zahl der zivilen Opfer nicht unverhältnismäßig ist, darf ein Staat auch in einem sehr dicht besiedelten Gebiet vorgehen. Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist laut Petrig an keine definierte Obergrenze bei den zivilen Opfern gebunden.
Wie argumentiert Israel?
Präsident Izchak Herzog hat betont, dass sich das israelische Militär unbedingt an internationales Recht halte. »Aber wir sind im Krieg«, fügte er hinzu. »Und wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen«, sagte er über die islamistische Hamas. Die israelische Armee betont, dass es kein »Flächenbombardement« im Gazastreifen gebe. Jedes Ziel stehe in Verbindung mit der Hamas, heißt es. Wenn Zivilisten sterben, sei dies unbeabsichtigt. Der Aufruf zur Massenevakuierung des nördlichen Gazastreifens wird in Israel als Schutzmaßnahme für die Zivilbevölkerung gerechtfertigt.
Wer soll die Frage von Kriegsverbrechen beurteilen?
Dafür käme - wie zum Beispiel bei der Aufarbeitung der Gräuel der Jugoslawienkriege - der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag infrage.
Schützt das humanitäre Völkerrecht die Zivilisten wirksam?
Das humanitäre Völkerrecht versucht einen Ausgleich zwischen militärischen Interessen und der Menschlichkeit. Bei zu strikten Regeln würden sich die Militärs von vornherein nicht daran halten, meint Petrig. Aufschlussreich sei das fachliche Synonym für humanitäres Völkerrecht: »Das Recht des bewaffneten Konflikts.«
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