In Pflegeeinrichtungen in Deutschland greift jetzt eine verpflichtende Tarifbezahlung - Patientenvertreter, Anbieter und Gewerkschaften warnen aber vor Kostensprüngen für Pflegebedürftige und fordern ein Gegensteuern der Politik.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verteidigte die Tariftreue-Regelung für die Einrichtungen, die auch wirke. »Die Löhne der Pflegekräfte in den Heimen steigen erheblich, und das ist gewollt. Endlich wird ihre wichtige Arbeit besser entlohnt«, sagte er.
Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste müssen seit Donnerstag nach Tarifverträgen oder ähnlich zahlen, um mit den Pflegekassen abrechnen zu können. Die gesetzliche Vorgabe hatte noch die alte schwarz-rote Bundesregierung auf den Weg gebracht - auch um dringend gesuchte Pflegekräfte im Beruf zu halten und zu gewinnen. Inzwischen haben rund 90 Prozent aller Einrichtungen eine entsprechende verpflichtende Rückmeldung zur Tariftreue abgegeben, wie der Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) auf dpa-Anfrage mitgeteilt hatte.
DGB: Tariftreue gute Nachricht - aber zulasten der Falschen
Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) sagte Vorstandsmitglied Anja Piel der Deutschen Presse-Agentur, Tariftreue sei eine gute Nachricht für die Beschäftigten in der Pflege, die schon viel zu lange auf faire Löhne gewartet hätten. »Die Kosten dafür jetzt den Pflegebedürftigen und ihren Familien anzulasten, ist aber ein Skandal.« Sie bräuchten Entlastungen. »Preissteigerungen von mehreren hundert Euro pro Monat plus steigende Energie- und Lebensmittelkosten im Pflegeheim bedeuten für viele Menschen existenzielle Not.«
Laut Gesundheitsministerium steigen die Gehälter vieler Pflegekräfte aktuell erheblich. Nach vorliegenden Einschätzungen privater Träger machten die Steigerungen je nach Bundesland und Einrichtung zwischen 10 und 30 Prozent aus. Im Gegenzug seien Pflegekassen verpflichtet, die steigenden Lohnaufwendungen bei Verhandlungen zur Vergütung von Pflegeleistungen zu berücksichtigen und damit eine Finanzierung der Tarifbezahlung zu gewährleisten. Lauterbach sagte, Lohnsteigerungen seien »ein später Dank« für alle aktiven Pflegekräfte und ein gutes Zeichen an alle, die diesen wichtigen und erfüllenden Beruf ergreifen wollten. »Die Gesellschaft muss diese Leistung besser honorieren.«
Stiftung Patientenschutz beklagt »Kosten-Tsunami«
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz beklagte, das Tariftreuegesetz wirke, löse aber einen »Kosten-Tsunami« bei den Pflegebedürftigen aus. Denn es sei nicht die Gesellschaft, die diese Leistung besser honoriere, sondern es seien allein die Pflegebedürftigen, sagte Vorstand Eugen Brysch der dpa. »Mit Inflation und explodierenden Energiepreisen türmt sich eine große Welle auf.« Das könnten neue Zuschüsse zu den Pflegekosten je nach Verweildauer nicht stoppen.
Teil der Pflege-Neuregelungen waren Entlastungen für Heimbewohner. Sie bekommen seit Jahresbeginn neben den Zahlungen der Pflegekasse einen Zuschlag, der mit der Dauer des Heimaufenthalts steigt. Doch selbst zu zahlende Anteile stiegen zuletzt weiter und wurden davon nur teilweise abgefedert, wie eine Auswertung des Verbands der Ersatzkassen ergab. Hintergrund ist, dass die Pflegeversicherung - anders als die Krankenversicherung - nur einen Teil der Kosten für die reine Pflege trägt. Für Heimbewohner kommen noch Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen hinzu.
Auch die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, mahnte, die Mehrkosten nicht auf die Pflegebedürftigen umzulegen. Sie forderte in der »Bild«-Zeitung eine »Deckelung der Pflegekosten, die sich an angemessenen Wohn- und Essenskosten orientiert - und an den Renten der Pflegeheimbewohner.« Die Pflege müsse ihrer Ansicht nach künftig über die Steuer finanziert werden.
Der Arbeitgeberverband Pflege erklärte, die Altenpflege müsse gut bezahlt werden, damit auch junge Menschen sich für den Beruf entscheiden. Präsident Thomas Greiner mahnte, dass die Pflegekassen die zusätzlichen Kosten der Lohnerhöhungen übernehmen müssten. »Hier darf es kein würdeloses Geschacher geben, denn die Pflegeunternehmen können es gerade jetzt nicht verkraften, das Geld vorzustrecken.«
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