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Türkei greift kurdische Stellungen in Syrien und im Irak an

Die Türkei macht kurdische Gruppen für den Bombenanschlag in Istanbul verantwortlich - und beginnt ihre lange angekündigte Militäroffensive gegen die Milizen in Syrien und Irak.

Trümmer eines Elektrizitätswerks
Menschen inspizieren die Trümmer eines Elektrizitätswerks in Nordsyrien, das durch türkische Luftangriffe zerstört wurde. Foto: Baderkhan Ahmad
Menschen inspizieren die Trümmer eines Elektrizitätswerks in Nordsyrien, das durch türkische Luftangriffe zerstört wurde.
Foto: Baderkhan Ahmad

Eine Woche nach dem tödlichen Bombenanschlag in Istanbul hat das türkische Militär kurdische Stellungen im Nordirak und in Nordsyrien angegriffen. Die Einsätze richteten sich gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG, wie das Verteidigungsministerium in Ankara am Sonntag mitteilte.

Es sei die Zeit der »Abrechnung«, twitterte Ibrahim Kalin, Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Türkei macht kurdische Gruppen für die Explosion mit sechs Toten in Istanbul am vergangenen Sonntag verantwortlich.

Bei den Luftangriffen in der Nacht seien mindestens 31 Menschen getötet und Dutzende zum Teil schwer verletzt worden, meldete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Dem türkischen Verteidigungsministerium zufolge wurden 89 Ziele in Nordsyrien und im Nordirak »zerstört«. Zudem seien »Terroristen in großer Zahl neutralisiert« worden. Die von Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) drohten der Türkei mit Vergeltung: »Diese Angriffe werden nicht unbeantwortet bleiben«, hieß es in einer Mitteilung.

Offenbar kurdische Vergeltungsmaßnahmen

Am Sonntagabend meldeten türkische staatliche Medien dann einen Raketenbeschuss in der Türkei nahe der syrischen Grenze. In der Nähe der türkischen Stadt Kilis seien zwei Soldaten und sechs Polizisten verletzt worden. Die Rakete sei von der syrischen Kurdenmiliz YPG abgefeuert worden, hieß es. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte und kurdische Aktivisten erklärten gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, dass türkische Militärstützpunkte in der syrischen Region Aleppo beschossen worden seien. Es seien Vergeltungsmaßnahmen für die türkischen Angriffe gewesen, hieß es.

Unter anderem bombardierte die türkische Luftwaffe demnach Orte in der Nähe von Kobane und Aleppo. Auch ein Posten der syrischen Regierung sei Ziel gewesen. Syrische Soldaten seien bei den Angriffen getötet worden, meldeten die Aktivisten sowie Syriens staatliche Nachrichtenagentur Sana. Die Türkei nannte unter anderem die nordirakischen Orte Kandil, Asus, Hakurk und die syrischen Orte Tall Rifat, Kobane, Dschasira und Al-Malikija als Ziele.

Ankara betrachtet YPG und PKK als Terrororganisationen

Die Türkei hat seit 2016 vier Militäroffensiven in Nordsyrien geführt, die sich auch gegen die YPG richteten. Ankara sieht in der YPG einen Ableger der PKK und betrachtet beide als Terrororganisationen. Die USA kooperieren im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit der YPG, stufen die PKK aber als terroristisch ein. In Nordsyrien hält die Türkei infolge ihrer Militäreinsätze Grenzgebiete besetzt und kooperiert dabei mit Rebellengruppen.

Der Konflikt zwischen türkischen Streitkräften und PKK hat eine jahrzehntelange Geschichte und bisher Tausende Opfer gefordert - laut der Organisation International Crisis Group wurden dabei mehrheitlich PKK-Mitglieder und Verbündete getötet.

Die türkische Armee habe auch mehrere Orte im Norden des Iraks angegriffen, meldete die Nachrichtenseite »Rudaw«. Ziel seien etwa Kandil-Berge gewesen. Dort hat die PKK ihr Hauptquartier.

Das Verteidigungsministerium in Ankara berief sich auf das Recht zur Selbstverteidigung laut Charta der Vereinten Nationen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Einsätzen allerdings bezweifelt, dass diese mit dem Völkerrecht vereinbar seien. Die Türkei habe mit der Operation »Klauenschwert« unter anderem Unterkünfte, Höhlen und Tunnel der »Terroristen« erfolgreich zerstört, hieß es aus Ankara.

HDP: Regierung nutzt den Anschlag als Vorwand

Experten vermuten, Ziel der türkischen Regierung könnte sein, türkisch besetzte Gebiete westlich und östlich der syrischen Stadt Kobane zu verbinden. Nach Beginn der Offensive in der Nacht habe es weitere Angriffe im Laufe des Tages in der Region gegeben, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Kobane hat unter anderem für viele Kurden einen starken symbolischen Charakter. Die Kurden befreiten die Stadt mit internationaler Hilfe einst vom IS.

Die prokurdische Partei HDP in der Türkei verurteilte die Angriffe scharf. Die Regierung nutze den Anschlag in Istanbul als Vorwand, um gegen Kobane vorzugehen, das mit seinem »epischen Widerstand« gegen den IS »die Unterdrückten dieser Welt inspiriert« habe, hieß es.

Nach der Bombenexplosion auf der belebten Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal liefen die Ermittlungen weiter. Am Freitag wurden in der Türkei 17 Menschen verhaftet. Zudem wurden in Bulgarien fünf Personen festgenommen, denen eine Mithilfe bei dem Anschlag vorgeworfen wird.

PKK und YPG streiten eine Beteiligung entschieden ab und unterstellen der Türkei ebenfalls, mit der Anschuldigung einen Vorwand für einen erneuten Militäreinsatz in Nordsyrien geschaffen zu haben. Auch unabhängige Experten äußerten solche Vermutungen, zumal der türkische Präsident bereits seit Monaten eine solche Offensive ankündigt. Die USA, aber auch Russland und Iran hatten Ankara zuvor deutlich von einer erneuten Militäroffensive abgeraten. Russland und der Iran unterstützen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.

© dpa-infocom, dpa:221120-99-586146/17