Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Deutschland und die anderen Bündnisstaaten zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine aufgerufen. »Es mag paradox klingen, aber militärische Unterstützung für die Ukraine ist der schnellste Weg zum Frieden«, sagte der Norweger der Deutschen Presse-Agentur zum Jahreswechsel.
Hintergrund sei, dass Russlands Präsident Wladimir Putin davon überzeugt werden müsse, dass er sein Ziel, die Kontrolle über die Ukraine zu übernehmen, nicht erreichen werde. Dann könne es eine friedliche Verhandlungslösung geben, die ein Überleben der Ukraine als unabhängiger demokratischer Staat gewährleiste.
Ähnlich wie Stoltenberg hatte sich zuletzt auch CDU-Chef Friedrich Merz geäußert. »Eine Unterstützung der Ukraine mit Schützenpanzern und Kampfpanzern würde diesen Krieg nicht verlängern, sondern verkürzen«, sagte der Spitzenpolitiker. »Deutschland und andere europäische Länder hätten der Ukraine längst Schützenpanzer und auch Kampfpanzer westlicher Bauart liefern sollen.«
Die Ukraine bittet ihre Verbündeten seit langem um Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart. Nach ukrainischen Angaben laufen Gespräche mit der Bundesregierung über die Lieferung der deutschen Modelle Leopard 2 und Marder. Kanzler Olaf Scholz (SPD) will solche Panzer nicht liefern, solange sie auch von anderen Bündnispartnern nicht bereitgestellt werden. Es werde keinen deutschen Alleingang in dieser Frage geben, hat der SPD-Politiker immer wieder betont.
Stoltenberg: Ukraine muss sich durchsetzen
Stoltenberg sagte zur Diskussion um die Lieferung deutscher Kampfpanzer und Patriot-Systeme, es gebe zu diesen Fragen gute Konsultationen in der Nato und im US-geführten Ramstein-Format. »Natürlich fordere ich die Verbündeten auf, mehr zu tun«, ergänzte er. »Es liegt in unser aller Sicherheitsinteresse, dafür zu sorgen, dass sich die Ukraine durchsetzt und Putin nicht gewinnt.«
Zugleich mahnte Stoltenberg an, die Diskussion nicht auf zusätzliche Systeme zu verengen. »Es geht nicht nur darum, mehr Waffensysteme hinzuzufügen«, sagte er. »Noch wichtiger ist vielleicht, dass es für alle bereits vorhandenen Systeme ausreichend Munition gibt. Der Bedarf an Munition und Ersatzteilen ist enorm.«
Stoltenberg: »Jedes Land hat das Recht, sich zu verteidigen«
Der Nato-Generalsekretär machte im Interview der Deutschen Presse-Agentur auch deutlich, dass er die jüngsten ukrainischen Angriffe auf militärische Ziele in Russland für vollkommen legitim hält. »Jedes Land hat das Recht, sich zu verteidigen. Auch die Ukraine«, sagte er. Russland ist vor mehr als zehn Monaten in sein Nachbarland Ukraine einmarschiert.
Bei den ukrainischen Angriffen müsse auch der Kontext gesehen werden: Massive russische Angriffe auf zivile Infrastruktur, die darauf abzielen, ukrainischen Zivilisten im Winter Wasser, Heizung und Strom zu nehmen. »Präsident Putin versucht, aus dem Winter eine Waffe gegen Zivilisten zu machen. Das ist kein Angriff auf militärische Ziele mit zivilen Opfern. Das ist ein massiver Angriff auf Zivilisten, weil Millionen Ukrainer dieser grundlegenden Leistungen beraubt werden«, sagte der frühere norwegische Regierungschef.
Russischer Militärflugplatz Engels im Visier
Stoltenberg knüpfte mit den Äußerungen daran an, dass die Ukraine zuletzt unter anderem den russischen Militärflugplatz Engels ins Visier genommen hatte. Auf ihm sind strategische Bomber stationiert, mit deren Marschflugkörpern Russland die Energie-Infrastruktur der Ukraine zerstört. Bei mit Drohnen durchgeführten Angriffen wurden zuletzt am 26. Dezember auch drei russische Soldaten getötet.
Zur Frage, ob es aus seiner Sicht auch zu verantworten wäre, der Ukraine Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen, sagte Stoltenberg, zu spezifischen Systemen gebe es einen ständigen Dialog zwischen Verbündeten und mit der Ukraine. Zudem verwies er darauf, dass Nato-Verbündete der Ukraine bereits in der Vergangenheit Waffensysteme mit großer Reichweite geliefert hätten, so zum Beispiel Himars-Raketenwerfer, Artillerie mit großer Reichweite und Drohnen.
Recht auf Selbstverteidigung
»Wir unterstützen die Ukraine beim Recht auf Selbstverteidigung«, sagte Stoltenberg. »Das ist ein Recht, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist.«
Als heikel gilt die starke militärische Unterstützung von Nato-Staaten für die Ukraine, weil nicht ausgeschlossen ist, dass Russland sie Rechtfertigung für einen Angriff auf Bündnisterritorium missbrauchen könnte. Die Nato müsste dann reagieren, und im schlimmsten Fall könnte der Konflikt in einem Krieg zwischen Atommächten enden.
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