Es ist wohl eine späte Genugtuung für ihn: Zum einen musste Christian Wulff zweieinhalb Jahre lang warten, bis ihm seine Heimatstadt Osnabrück die Ehrenbürgerwürde feierlich verleihen konnte. Der Ratsbeschluss dazu datiert schon vom 3. Dezember 2019. Doch die Corona-Pandemie verhinderte bisher den gebührenden Festakt.
Zum anderen hielt die Laudatio auf den Bundespräsidenten a.D. kein Geringerer als der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Das ließ aufhorchen.
Es wurde eine sehr persönliche Rede - anknüpfend an eines der Lieblingsbücher des heute 63-jährigen früheren CDU-Politikers, »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry. Steinmeier und Wulff kennen sich seit langem. Steinmeier war in Hannover Staatskanzleichef unter Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD), als Wulff noch Oppositionsführer im Landtag war. Heutzutage sehen sie sich hin und wieder, telefonieren miteinander oder schreiben sich.
Steinmeier würdigt Wulffs Verdienste
Der Amtsinhaber nutzte seine Rede, um die Verdienste seines Vor-Vorgängers in seiner kurzen Amtszeit von gerade einmal 598 Tagen zu würdigen. Vor allem den Satz »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« aus Wulffs Rede zum 3. Oktober 2010.
Ein Satz, der konservativen Kreisen der Union noch immer aufstößt. Und den Steinmeier in Osnabrück »mutig« nannte. »Denn er fiel in eine Zeit, als es Debatten mit vielen rassistischen und besonders antimuslimischen Untertönen gab und als ein Buch, das festzustellen glaubte, Deutschland schaffe sich ab, ein Bestseller war. Hier hat der Bundespräsident ein notwendiges, ein mutiges, ein entschiedenes Wort gesagt.«
Steinmeier erinnerte auch an Wulffs Begrüßung von Papst Benedikt bei dessen Deutschland-Besuch 2011. Großen Respekt habe ihm eingebracht, den Papst öffentlich zu fragen, wie barmherzig die Kirche eigentlich mit Menschen umgehe, die Brüche in ihrer Lebensgeschichte hätten.
Der große Bruch
Stichwort »Brüche«: Natürlich konnte Steinmeier den großen Bruch in Wulffs Leben - seinen Rücktritt - nicht außen vor lassen. 2011 holte das Staatsoberhaupt Wulff eine Geschichte des Ministerpräsidenten Wulff aus dem Jahr 2008 ein: Es ging um einen im Landtag in Hannover verschwiegenen Privatkredit von einer Unternehmergattin über 500.000 Euro zum Kauf eines Hauses.
Als die »Bild«-Zeitung dies im Dezember 2011 publik machen wollte, rief Wulff bei Chefredakteur Kai Diekmann an, um den Bericht zu verhindern. Er erreichte nur die Mailbox, drohte dem Springer-Verlag »Krieg« an. Die Medien gruben tiefer, fanden zum Beispiel Urlaube bei und mit befreundeten Unternehmern, wo die Frage im Raum stand, wer sie wohl bezahlt hat. Wulff trat zurück, als die Staatsanwaltschaft Hannover beim Bundestag die Aufhebung seiner Immunität beantragte, um gegen ihn ermitteln zu können. Im Februar 2014 bekam er vor dem Landgericht Hannover jedoch einen Freispruch.
Wurde Wulff also das Opfer einer Medienjagd? Oder stolperte er auf dem schmalen Grat zwischen dem, was einerseits legal ist, sich aber andererseits für einen Spitzenpolitiker schlichtweg nicht ziemt?
Steinmeier nahm keine Wertung und erst recht keine Verurteilung vor, ließ aber mit einem subtil formulierten Satz keine Zweifel, das er durchaus Fehlverhalten bei Wulff sieht: »Wo eigene Fehler liegen, die zu dem bitteren Schritt führten, das wird Christian Wulff selber beurteilen.« Wichtig sei aber auch: »Von allen rechtlichen Vorwürfen wurde er freigesprochen.«
»Gnadenlosigkeit der öffentlichen Meinung erfahren«
Und Steinmeier verschwieg auch nicht, was er von der damaligen medialen Vorverurteilung Wulffs hält: Dieser habe, »wie ich es niemandem wünschen möchte, eine Gnadenlosigkeit der öffentlichen Meinung erfahren«. Das dürfte Wulff ebenso gut getan haben wie Steinmeiers Würdigung seiner Arbeit im Stadtrat in Osnabrück, im Niedersächsischen Landtag, als Ministerpräsident und dann als Bundespräsident.
Wulff wies in seiner Rede darauf hin, dass Deutschland als freiheitliches Land von Vielfalt lebe, von unterschiedlichen Lebensentwürfen und von Aufgeschlossenheit für neue Ideen. »Unser Land muss Verschiedenheit aushalten, es muss sie sogar wollen.«
Die Bedrohungen der Demokratie, auch von innen, machten ihm Sorgen, sagte der Altbundespräsident. Es sei nicht einfacher geworden, sich einzusetzen. »Wer in der Demokratie nichts macht, überlässt das Feld gerade denen, die Böses im Schilde führen«, sagte er. Er wünsche sich mehr Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen.
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