Es ist kurz vor 15.30 Uhr, als die Sirenen Luftalarm geben. Im Gebäude der Eisenbahndirektion Odessa lässt sich Christine Lambrecht (SPD) gerade von Olexij Resnikow die Lage im Abwehrkampf der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg erklären. Wenige Minuten später sitzt die Verteidigungsministerin mit ihrem Amtskollegen ein paar Stockwerke tiefer im Luftschutzbunker der Behörde. Es hat was von Museum: Im Vorraum liegen alte Gasmasken im Regal, die großen Warntafeln an den Wänden erinnern an Sowjetzeit und Kalter Krieg.
Doch es ist ein heißer, aktueller Krieg, in den sich Lambrecht an diesem Samstag für einen Tag hat fahren lassen. Schon in der Nacht zuvor gibt es in Odessa Luftalarm. Nach ukrainischen Angaben schlagen in einem Industriegebiet zwei russische Iskander-Raketen ein. Verletzt wird niemand.
Zu dieser Zeit besucht die Ministerin noch die kleine ukrainische Nachbarrepublik Moldau - vom geplanten Besuch in der Ukraine weiß die Öffentlichkeit in Deutschland da noch nichts. Aus Sicherheitsgründen bleibt die Stippvisite bis Samstagabend geheim.
Auch in Moldau dominiert der russische Krieg die Gespräche
In Moldau ist es gerade ziemlich friedlich, auch wenn die Menschen unter einer Inflationsrate von etwa 40 Prozent ächzen - der höchsten innerhalb Europas. Der Gaspreis ist in einem Jahr um 380 Prozent gestiegen. Von den seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in das Land gekommenen 500 000 Flüchtlingen sind etwa 95 000 geblieben. Die Stimmung, die am Anfang offenherzig war, drohe zu kippen, heißt es. Moldau hat nur 3,2 Millionen Einwohner.
Auch in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau, bestimmt der russische Krieg die Gespräche. Lambrecht warnt angesichts der Drohungen Putins mit Atomwaffen vor einer Lähmung des Westens. Sie sagt ihrem Amtskollegen Anatolie Nosatii weitere Unterstützung bei Ausrüstung und Ausbildung der Armee zu. Es geht auch um die Beschaffung von Drohnen.
Am Samstagmittag hat Lambrecht dann ihr hellbeiges Kostüm und die hohen Schuhe, mit denen sie in Moldau die Ehrengarde abgeschritten hat, gegen ein anderes Outfit getauscht. Als sie am Grenzübergang Palanca vom Konvoi der Gastgeber zu den Fahrzeugen der ukrainischen Seite wechselt, steht sie ganz in Schwarz gekleidet zwischen den Wagen. Oberteil, Hose, feste Schuhe - alles Ton in Ton. Soll ihr nur niemand wieder falsches Schuhwerk vorwerfen, mag die 57-Jährige gedacht haben. So wie im April, als manche sich mokierten, sie sei in Stöckelschuhen zum Truppenbesuch nach Mali gereist.
Spätsommertag in Odessa
Nun also Odessa, fast 25 Grad, es ist Spätsommer in der Stadt. Am Tag läuft das Leben beinahe normal, die Menschen drängen sich in den Geschäften, sitzen in Cafés. Wenn da nur nicht die von 23.00 Uhr an geltende Ausgangssperre wäre und die vielen Luftalarme in der Nacht.
An etlichen Orten in der Stadt sind geschützte Militärstellungen zu sehen. Lange haben sie in der hübschen Schwarzmeerstadt damit gerechnet, dass der russische Präsident Wladimir Putin mit seinen Soldaten Odessa überrennt und seine Truppen weiter Richtung Moldau marschieren lässt. Doch die Lage hat sich geändert. Trotz der russischen Annexion besetzter Gebiete kann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Samstag etwa die Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Lyman im Osten des Landes feiern.
Die Ukraine wünscht sich dringend Anti-Schiffs-Raketen
Zurück in den Luftschutzbunker. Der Weg dort hin führt vorbei an einem mit weißen Sandsäcken verbarrikadierten Haupteingang. Im Hintergrund surrt die Lüftung, es ist stickig, es wird immer wärmer. Lambrecht und ihr Kollege sitzen an Holztischen, die aussehen, als hätten an ihnen vor Jahrzehnten ukrainische Schülerinnen und Schüler gebüffelt. Resnikow nutzt die 45 Alarm-Minuten, um Lambrecht erneut den Wunsch nach mehr und moderneren Waffen vorzutragen.
Die Russen hätten eine Rakete vom Typ Kalibr abgeschossen, höchstwahrscheinlich von einem Schiff aus, erklärt Resnikow der deutschen Kollegin den Grund für den Aufenthalt im Bunker. Deswegen brauche sein Land dringend moderne Anti-Schiffs-Raketen. Lambrecht entgegnet lediglich, die Situation mache deutlich, wie wichtig die rasche Lieferung einer ersten Einheit des bodengestützten Luftabwehrsystems Iris-T SLM sei. Das moderne System, über das noch nicht einmal die Bundeswehr verfügt, soll nach ihren Worten in wenigen Tagen geliefert werden. Direkt vom Hersteller.
Lambrecht will in Odessa ein Zeichen der Solidarität setzen
Nach den vorangegangenen Besuchen anderer Kabinettsmitglieder und auch von Scholz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew will Lambrecht in dem immer wieder von Angriffen bedrohten Odessa ein Zeichen der Solidarität setzen. Gemeinsam mit Resnikow besucht sie verwundete Kämpfer in einem Militärkrankenhaus und nimmt an der Ehrung besonders verdienter Soldaten teil. In einer umfangreichen Abwehrstellung der Ukrainer auf einer Anhöhe vor der Stadt lässt sie sich durch lehmige Schützengräben und von dickem Beton gesicherte Geschützbunker führen.
Gepard im Getreidehafen
Lambrechts letzter Programmpunkt vor der hereinbrechenden Nacht steht auf einer Brücke im Getreidehafen von Odessa an. Einer von insgesamt 30 von Deutschland an die Ukraine gelieferten Gepard-Flugabwehrpanzer lässt dort seine Radarantenne kreisen. Das schwere Gerät steht nur zu Demonstrationszwecken wie auf dem Präsentierteller da - die wirkliche Kampfposition des Panzers ist geheim. Zusammen mit Resnikow spricht Lambrecht mit der Gepard-Besatzung - alles Männer, die in Deutschland an dieser Waffe ausgebildet wurden.
Mit den Bildern, die auf der Brücke entstehen, hat Lambrecht ein für sie wichtiges Signal gesetzt: Jeder soll sehen, dass Deutschland die Ukraine mit schweren Waffen wie diesem Panzer unterstützt.
Zweiter Luftalarm reißt Lambrecht aus dem Bett
Mitten in der Nacht wird Lambrecht wieder mit der harten Wirklichkeit des Krieges konfrontiert. Ein neuerlicher Luftalarm reißt sie aus dem Schlaf. Mit anderen Mitgliedern ihrer Delegation sucht sie um kurz vor 1.00 Uhr Schutz im Bunker ihres Hotels. Ungewöhnlich früh war die Ministerin an diesem Abend ins Bett gegangen. Aus Sicherheitsgründen habe sie vor der Reise ihr Mobiltelefon abgegeben, damit niemand sie orten könne, erzählt die Ministerin. Eigentlich hätte sie wohl zu der Zeit noch auf dem Handy gelesen. Nach 20 Minuten gibt es Entwarnung.
Dass die Sorgen der Ukrainer nicht unbegründet waren, zeigt sich erst später. Mykolajiw sei am Samstag von den Russen tatsächlich mit Raketen beschossen worden, heißt es. Genau in der Gegend, in der ein Teil des Besuchsprogramms der Ministerin mit Resnikow geplant war, schlug demnach eine Rakete ein. Ein Häuserblock sei getroffen und mehrere Menschen verletzt worden.
Auch die zweite Sirenenwarnung in der Nacht zum Sonntag war nach diesen Informationen kein Fehlalarm. Eine Rakete habe erneut Mykolajiw getroffen, eine andere sei zwischen dieser Stadt und Odessa eingeschlagen. Über Schäden sei nichts bekannt, hieß es. Am Sonntagmittag um kurz vor 13.00 Uhr ist Lambrecht zurück in Berlin. Ohne weitere Zwischenfälle.
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